Thomas Dörfler: Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989. Bielefeld 2010. 332 S.

Gentrification in Prenzlauer Berg - kann man zu diesem Thema überhaupt noch etwas Neues schreiben? Ja, sagt der Soziologe und Geograph Thomas Dörfler und untersucht in seiner 2010 im transcript Verlag publizierten Dissertation den sozialräumlichen Wandel in Prenzlauer Berg zwischen 1985 und 2005.

 

Es ist ihm dabei ein zentrales Anliegen zu zeigen, dass Gentrification-Prozesse weit mehr als bauliche Veränderungen, Mietsteigerungen, Modernisierung der Infrastruktur, Austausch der Bevölkerung oder Quartiersmanagement bedeuten und dass die normativen Begriffe "Aufwertung" und "Verdrängung" im Gentrification-Kontext kritisch betrachtet werden sollten. Die bisherige Gentrification-Forschung wird daher auch kaum berücksichtigt. Aus seiner Sicht fehlt bisher "eine basale Auseinandersetzung über die Hintergründe und Konsequenzen des Bedeutungswandels des Viertels aus Sicht seiner Bewohner" (S. 12). Diese sozialwissenschaftliche Betrachtung der Entwicklungen will er mit seiner Arbeit leisten. Daher wählt Dörfler eine neue Perspektive in der Gentrification-Forschung und rekonstruiert mithilfe qualitativer Interviews die Entwicklungen in Prenzlauer Berg aus dem Blickwinkel verschiedener Bewohnergruppen. Die Bewohner bilden damit als "lebensweltliche Akteure, die die Trägersubjekte im Sinne des sozialen Wissens um diese Veränderungen darstellen" (S. 11), die entscheidende Informationsquelle und Untersuchungsgruppe.

Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. Nach einer kurzen Einleitung behandelt der Autor im zweiten Kapitel verschiedene Aspekte zur "Theorie des Raumes" als theoretische Grundlage für seine Arbeit. In Kapitel 3 wird die methodische Vorgehensweise der Fallstudie vorgestellt, die auf 32 Interviews, drei Gedächtnisprotokollen sowie Gesprächsnotizen basiert. Kapitel 4 präsentiert auf über 180 Seiten die einzelnen Stationen des sozialräumlichen Wandels in Prenzlauer Berg von 1985 bis 2005 als Ergebnisse der empirischen Untersuchung. Die Arbeit endet mit einer kurzen Schlussbetrachtung in Kapitel 5.

Dörfler wirft in seiner Einleitung verschiedene Thesen und Fragen auf. So ist es das Ziel seiner Arbeit, zu rekonstruieren, wie die Bewohner die Veränderungen von Prenzlauer Berg in den letzten 20 Jahren sehen und erfahren haben, um darauf aufbauend die sozialräumliche Relevanz dieser Veränderungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit herauszuarbeiten (S. 10). Die zentrale Forschungsfrage zielt dagegen überraschenderweise mehr auf die methodische Ebene ab: "Mit welchen Modellen des sozialräumlichen Wandels lässt sich ein solcher in Berlin Prenzlauer Berg qualitativ, im Sinne hermeneutisch-rekonstruktiver Forschung analysieren?" (S. 11, Hervorhebung Dörfler). Im Auswertungskapitel stehen allerdings die inhaltlichen Ergebnisse im Vordergrund.

Im Kapitel "Zur Theorie des Raumes" (S. 15ff.) setzt sich der Autor - wie die Überschrift vermuten lässt - sehr ausführlich und grundsätzlich mit dem Raum auseinander und diskutiert Aspekte verschiedener Raumbegriffe, -konzepte und -theorien sowie deren Entwicklung und Verwendung in den unterschiedlichen Disziplinen. Dies geschieht auf einem hohen theoretischen Niveau. Die Notwendigkeit dieser umfassenden theoretischen Ausführungen für den empirischen Teil der Arbeit ist jedoch für den Leser nicht immer erkennbar und nachvollziehbar. So ist dieser Abschnitt des Buches mit seinen vielen ausholenden Erläuterungen teilweise etwas mühsam zu lesen. Der Autor begründet die umfangreiche Theoriediskussion allerdings mit dem Anliegen seiner Arbeit, "den zusätzlichen Schritt der empirischen Einbettung auf der Grundlage aktueller, deontologischer Raumkonzeptionen zu tätigen" (S.69). Er merkt an, dass eine Anknüpfung der theoretischen Konzepte und Diskussionen zum Thema Raum an eine qualitative Empirie bisher kaum geleistet wurde.

Diese "empirische Einbettung" gelingt dem Autor auf jeden Fall sehr gut hinsichtlich des letzten Teils des Theoriekapitels, in dem er die "Raumsoziologie" von Martina Löw behandelt. Sein Fokus liegt dabei auf der "Erklärung sozialräumlichen Wandels aus rekonstruktiver Perspektive" (S. 75). In der theoretischen Darstellung der Raumtheorie Löws greift er insbesondere die relationale Raumkonzeption und die dazugehörigen Begriffe des Spacing und der Syntheseleistungen auf und erklärt die Begriffe und komplexen Zusammenhänge. Von einer Syntheseleistung wird gesprochen, wenn "über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse [...] Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst [werden]" (S. 81). Unter dem Begriff des Spacing werden dagegen "das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen" sowie das "Positionieren symbolischer Markierungen an Orten" verstanden (S. 82). Dörfler veranschaulicht die Übertragbarkeit dieser Begriffe auf die Thematik des Milieuwandels in Prenzlauer Berg. Er stellt heraus, dass die Raumtheorie Löws dazu beitragen kann, ein differenziertes Bild von Gentrification-Prozessen und den Sozialräumen, in denen diese Prozesse stattfinden, zu zeichnen. Diese Überlegungen bilden die Grundlage für den empirischen Teil der Arbeit.

Die Durchführung narrativer Interviews zur Bearbeitung der Thematik bietet sich an und wird gut nachvollziehbar dargestellt. Die mehrmalige (S. 22f., S. 84f., S. 95f., S. 111f.), teilweise äußerst energische Abgrenzung zu quantitativen Methoden und der klassischen Gentrification-Forschung wirkt dagegen etwas unpassend und überzogen. Im Rahmen des sehr ausführlichen Methodologiekapitels geht der Autor auch auf die Milieuanalyse und Milieutheorie ein. Dabei überträgt er das Konzept des relationalen Raumes auf einen relationalen Milieubegriff. "Dies bedeutet, dass sich die hier herausgearbeiteten Milieus hinsichtlich anderer Gruppen nur sinnvoll verstehen lassen, wenn ihre Milieuzuordnung aufgrund der sozialräumlichen Aneignungs- und Abgrenzungsstrategien, die die Subjekte selbst hervorbringen, verstanden wird: in ihrem lebensweltlichen spacing und den dazugehörigen Syntheseleistungen" (S. 109, Hervorhebungen Dörfler).

Die Strukturierung der Ergebnisse und der Aufbau des Empiriekapitels erfolgt anhand einer inhaltlichen Dimension, in der biographische und übergeordnete gesellschaftliche Prozesse in Prenzlauer Berg betrachtet werden, sowie einer zeitlichen Dimension. So zeichnet Dörfler in seinem Auswertungskapitel anhand von vier Zeitabschnitten ("die 1980er Jahre", "die Zeit der Wende", "Nachwende", "die Neunziger Jahre bis heute") ein differenziertes Bild des sozialräumlichen Wandels in Prenzlauer Berg nach. Es ist sehr wertvoll für das Verständnis dieses Wandels, dass der Autor auch die Situation und die Entwicklungen in den 1980er Jahren in der DDR berücksichtigt. Über diesen Zeitraum von etwa 20 Jahren stellt er verschiedene Bewohnergruppen (Milieus) ("Ost-Alternative", "Ost-Literaten/ -Künstler", "DDR-Bürger", "West-Alternative", "Studenten", "Kreative, Bobos und Lohas") mit ihren alltäglichen Raumerfahrungen und relationalen Sozialräumen dar und einander gegenüber. Anhand langer Interviewpassagen und deren Einordnung in die jeweilige Zeit werden die Ortspraktiken und Ortsidentifikationen der verschiedenen Milieugruppen in ihrem Sozialraum Prenzlauer Berg herausgearbeitet und im Kontext von ihrer Erfahrung, ihrer Deutung und ihres Wissens bezüglich des Ortes analysiert. Die Ausführungen werden mit passenden Fotos aus den verschiedenen Zeitabschnitten illustriert. Über das Konzept des relationalen Milieuraums sowie die Prozesse des Spacing und der Syntheseleistungen werden Bezüge zur im Theoriekapitel behandelten Raumsoziologie von Martina Löw hergestellt. Beispielsweise betrachtet und beurteilt die Gruppe der "Ost-Alternativen" die schnellen Veränderungen der ihnen vertrauten Orte Anfang der 1990er Jahre vor dem Hintergrund ihrer durch starke Umbrüche geprägten Lebenssituation anders als die neu zugezogenen "West-Alternativen", die vor allem die Freiräume anziehend und inspirierend finden. Beide Gruppen zeichnen sich durch einen starken Ortsbezug zu Prenzlauer Berg und einzelnen Orten aus, jedoch bezieht sich dieser jeweils auf eine unterschiedliche Vorstellung der Orte. Daran wird die Notwendigkeit einer relationalen, milieuspezifischen Betrachtung des Sozialraums deutlich (S. 243f.). Die zeitliche Perspektive zeigt, dass sich außerdem die Bewertung des Sozialraums durch dieselbe Gruppe vor dem Hintergrund der sich vollziehenden Veränderungen im Stadtteil mit der Zeit wandelt.

Die Ergebnisse zu Spacing und Syntheseleistungen der verschiedenen Milieus werden für die einzelnen Zeitabschnitte in vier Resümees zusammengefasst. An verschiedenen Stellen geben Darstellungen in Tabellenform und Stichworten dabei eine kurze und gute Übersicht über die Ergebnisse. Teilweise wären noch ausführlichere Erläuterungen sowie eine zusammenfassende Betrachtung des Gesamtprozesses der Gentrification über die verschiedenen Zeitabschnitte hinweg interessant und für das Verständnis der Ergebnisse und den Rückbezug zur Theorie nützlich gewesen. In einer kurzen Schlussbetrachtung spannt der Autor noch einmal den Bogen zu seiner Forschungsfrage, indem er eine abschließende Einordnung des qualitativen Forschungsdesigns sowie der Sozialraum- und Milieuperspektive seiner Arbeit in die Gentrification-Forschung vornimmt.

Zusammenfassend betrachtet gibt die Arbeit einen guten Einblick in den Milieuwandel des Sozialraums Berlin-Prenzlauer Berg. Die Betrachtung der alltagsweltlichen Erfahrungen der Bewohner und die Einbindung der Thematik in raumtheoretische Überlegungen stellt eine neue Herangehensweise dar, die auch neue Erkenntnisse hervorbringt.

Jedoch erschließen sich einige Passagen und Zusammenhänge des Buches dem Leser leider nicht direkt. Das liegt zum einen an dem sehr komplex aufgezogenen Kapitel zur Theorie des Raumes und der Verwendung eines teils unnötig komplizierten, teils überspitzt formulierten Schreibstils. Zum anderen wird der Lesefluss bedauerlicherweise durch eine nicht unerhebliche Anzahl an sprachlichen Fehlern und formalen Ungenauigkeiten zusammen mit dem im Jahr 2010 zumindest irritierenden Gebrauch der alten Rechtschreibung beeinträchtigt.

Insgesamt handelt es sich bei dem von Thomas Dörfler vorgelegten Buch um eine für Anhänger verschiedener Fachrichtungen interessante und lesenswerte Arbeit. So bietet die Studie zum einen mit der subjektiven Bewohnerperspektive und der Milieuanalyse eine neue Betrachtungsweise auf Gentrification-Prozesse und stellt eine gewinnbringende und sinnvolle Ergänzung bisheriger Ergebnisse der Gentrification-Forschung dar. Zum anderen leistet sie durch die Übertragung raumtheoretischer Konzepte (hier insbesondere der Raumtheorie von Martina Löw) in die Empirie einen wertvollen Beitrag zur Verknüpfung sozialwissenschaftlicher Theorien mit der Alltagswelt und kann eine Anregung für andere Raumtheoretiker darstellen, es dem Autor gleich zu tun. Damit kann sie als Bereicherung für die Sozialraum- und Milieuforschung betrachtet werden. Aus stadtgeographischer Sicht gewährt der empirische Teil der Arbeit zudem interessante und detaillierte Einblicke in die lebensweltliche Entwicklung des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg.

Rebekka Oostendorp, Bonn

Geographische Zeitschrift, 100. Jg., 2012, Heft 2, S. 123-125

Lesen Sie auch die Rezension von Olaf Schnur: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1766-thomas-doerfler-gentrification-in-prenzlauer-berg

 

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