Harm de Blij: The power of place. Geography, destiny, and globalization's rough landscape. Oxford/New York 2009. 304 p.
Lässt sich die These des Todes der euklidischen Distanz aufgrund der Digitalisierung in der Gegenwartsgesellschaft aufrechterhalten? Verliert der Raum seine Jahrtausende alte Wirkkraft auf die Organisation von sozialen Prozessen? Ist die Weltgesellschaft tatsachlich kommunikativ soweit zusammengerückt, dass die selektierende Wirkung räumlicher Entfernungen auf der Erde mehr oder weniger zu vernachlassigen ist? Folgt man den Ausführungen des US-amerikanischen Geographen Harm de Blij, dann gelten diese Thesen lediglich fur eine Minderheit der Menschen. Fur die Mehrheit weist der Raum situationsbedingt eine nicht zu unterschätzende Prägkraft, eine "power of place" auf.
"Earth may be a planet of shrinking functional distances, but it remains a world of staggering situational differences." (3) Schon der erste Satz der Abhandlung lässt die Intention des Autors deutlich erkennen. Es geht ihm um eine Geographie der Situation, die nicht auf eine globale Perspektive des Schrumpfens funktionaler Distanzen abstellt, sondern in jeweils spezifischen Situationen die Bedeutung von Orten erkunden will. Die Verschiedenheit von Orten und die davon abhängigen Differenzen in den Lebensbedingungen soll diese situative Geographie erlautern. Eine Leitunterscheidung, die de Blij für sein Unterfangen heranzieht und kartographisch darstellt, ist die Differenz von Kern und Peripherie. Den Kern bilden die reichen Volkswirtschaften des Westens, d.h. Nordamerika, Westeuropa, Japan, Südkorea und Taiwan sowie Australien und Neuseeland. Der Rest der Welt ist begrifflich für de Blij die Peripherie. Überhaupt bilden thematische Welt- und Regionalkarten haufig den Ausgangspunkt der Ausführungen zu Migration und Religionsgeographie, zu Urbanisierung und medizinischer Geographie, zu Naturrisiken und Sprachvielfalt. Und mit dieser Skizze des breiten inhaltlichen Bogens, den das Buch schlägt, rückt gleichzeitig eine wesentliche Schwäche dieser Situationsgeographie in das Blickfeld - ihr deskriptiver Charakter. Das Buch beschreibt treffend die global existierende Ungleichheit in vielfältiger Weise fur unterschiedliche Themen. Es erklärt diese Differenzen aber lediglich ansatzweise, oder es werden geodeterministische Argumente bemüht. Diese Tendenz scheint deutlich durch, wenn zum Beispiel das ölreiche Kuwait mit dem ressourcenarmen Mali verglichen wird und die enormen Differenzen der Volkswirtschaften über die naturräumlichen Unterschiede erklärt werden. Derartige Argumentationen sind spätestens seit Jared Diamonds Globalgeographie " Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften" mehr als bekannt, nur dass de Blij nicht wie Diamond die Hauptausrichtung der Kontinente für Diffusionsprozesse und daran gekoppelt für Wohlstandsunterschiede bemüht, sondern lediglich die Ausstattung der Staatsgebiete mit natürlichen Ressourcen heranzieht. Auch konnen im Buch skizzierte Neologismen wie zum Beispiel "geography of jeopardy" (131) nicht wirklich uberzeugen, denn die mit diesem Begriff bezeichnete ungleiche Verteilung von Naturrisiken uber die Erdoberflache adressiert die Hazardforschung in der Geographie schon seit langem mit einem tradierten Begriffsapparat. De Blij geht es im Wesentlichen um die ungleich verteilte Möglichkeit der Transformation von unbeherrschbaren Naturgefahren in kalkulierbare Risiken, die stark von der Wirtschaftskraft eines Staates abhängt. Die Niederlande haben daher ein deutlich wirksameres Hochwasserschutzsystem als etwa Bangladesch. Doch solche Erkenntnisse sind auf globaler Skalenebene banal.
Seine Stärken zeigt das Buch gerade in den Passagen, wo es genuin lokale Phänomene und Prozesse erklären will und weniger die weltweite Differenz von Kern und Peripherie adressiert. Interessant ist de Blijs Beispiel der fortschreitenden Ausbreitung des tropischen Denguefiebers in nördliche Breiten. Der US-amerikanische Geograph arbeitet hier diffizil heraus, dass nicht der globale Klimawandel allein diese von Mücken der Gattung Aedes aegypti ubertragene Infektionskrankheit forciert. Vielmehr bestimmen ökonomische Faktoren die Infektionsraten in deutlich starkerem Maße. So wurden zwischen 1980 und 2000 in Texas lediglich 64 Fälle von Denguefieber gemeldet. Auf der mexikanischen Seite des Rio Grande waren es zur gleichen Zeit 62.514 registrierte Infektionen. Das Verhältnis von 1: 1.000 ist vor allem der allgemeinen Verbreitung von gläsernen Fensterscheiben und Klimaanlagen in Texas geschuldet, die in Mexiko nur einer privilegierten Mittel- und Oberschicht zugänglich sind. Damit ist die mexikanische Bevölkerung der Krankheit deutlich stärker ausgesetzt als die US-amerikanische und dies obwohl die Populationsdichte der übertragenden Mücke in Texas höher ist. (92 f.)
Zusammengefasst hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite steckt es voller interessant aufbereiteter Detailinformationen und provokanter Vergleiche, die letztlich dazu führen, Thomas L. Friedmans These von der "flat world" zu verwerfen. Die Welt ist höchstens für eine verschwindend kleine globale, überwiegend männliche Elite "flach". Auf der anderen Seite bleibt die Situationsgeographie in weiten Teilen deskriptiv oder bemüht geodeterministische Argumentationslinien, die nicht überzeugen. Die Macht des Lokalen ist offensichtlich viel zu differenziert, als dass sie sich in eine einzige Monographie pressen ließe.
Peter Dirksmeier, Berlin
Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 56 (2012) Heft 3, S. 203-204
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