Joseph Vogel: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010. 216 S.
Im Bericht einer amerikanischen Untersuchungskommission wird die Finanzkrise von 2007/2008 für vermeidbar gehalten, sie sei ein Ergebnis von „menschlichem Handeln, Unterlassen und Fehleinschätzungen“ gewesen. Die Meinungen zwischen demokratischer Mehrheit und republikanischer Opposition im Repräsentantenhaus gingen zwar weit auseinander, wem am Ende das größte Fehlverhalten anzulasten sei, grundsätzliche Einigkeit bestand allerdings in einer zentralen Schlussfolgerung: Nicht das System, sondern der Mensch hat versagt (vgl.FAZ vom 28.1. 2011).
Begründete Zweifel an diesem Glaubenssatz bestehen nicht erst seit der jüngsten Krise. Frische Nahrung haben diese Zweifel jetzt durch eine beeindruckende Studie gefunden, die der philosophisch versierte Kultur- und Literaturwissenschaftler Joseph Vogl vorgelegt hat. Die positive Resonanz auf das Buch, das im Titel auf ein berühmtes Manifest des 19. Jahrhunderts Bezug nimmt und mit seiner schlichten Aufmachung den ästhetischen Charme eines Raubdrucks der siebziger Jahre verströmt, dürfte Autor und Verlag überrascht haben, durch den Inhalt ist sie aber mehr als gerechtfertigt. Das Buch hat es in der Tat in sich.
Die vorliegende Studie ist keine empirische Untersuchung zu Krisenursachen und -folgen, vielmehr geht es Vogl darum, die Entwicklung des ökonomischen Denkens, speziell der Theorien zur Geld- und Finanzwirtschaft, historisch weit ausholend nachzuzeichnen und in einen größeren geistesgeschichtlichen Rahmen einzubetten. Als „Glaubenslehre unserer Tage“ (21) stehe für die Wirtschaftswissenschaft einiges auf dem Spiel, es gehe für sie letztlich um die Geltung einer liberalen, kapitalistischen Oikodizee (nach dem aufklärungsbedingten Ende der Theodizee), das heißt um den Nachweis, dass „die Zweckwidrigkeiten, Übel und Pannen im System mit dessen weiser Einrichtung vereinbar“ sind – oder eben auch nicht (29). Zentrale Fragen dabei sind: Können „irrationale
Exuberanzen“ wie im Kontext der jüngsten Finanzkrise zu beobachten wirklich als Ausnahmefälle gelten oder müssen sie doch eher als „reguläre Prozesse im Getriebe kapitalistischer Ökonomien“ angesehen werden? Lassen sich die Systemeffekte dieser Ökonomien überhaupt sinnvoll mit der Unterscheidung rational - irrational fassen? (28)
Ökonomische Theorien spiegeln, darin liegt eine Pointe der Voglschen Argumentation, wirtschaftliche Realität nicht nur erklärend wider, sie sind vielmehr selbst an der Produktion eben dieser Realität beteiligt, indem sie Spielregeln und Handlungsanleitungen für ökonomische und politische Akteure bereitstellen. Und wegen dieser performativen Eigenschaft von Theorie ist Vogls Studie auch weit mehr als eine Ideengeschichte: Sie dokumentiert vielmehr für die letzten 300 Jahre die Entwicklung einer Programmatik ökonomischen Handelns. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: 1) Die Idee eines Marktes, der die egoistischen Interessen der Einzelnen zum Wohle des Ganzen ausgleicht, auf dem in der Bewegung der Preise auf ideale Weise alle verfügbaren Informationen zum Ausdruck kommen, wurde entwickelt, bevor Märkte in größerem Umfang überhaupt existierten. Marktgesellschaften wurden bewusst hergestellt, sie sind nicht naturwüchsig-evolutionär aus elementaren Formen des Tausches entstanden. 2) Seit den siebziger Jahren hat das von Fischer Black und Myron Scholes entwickelte Berechnungsverfahren, das die Abschätzung der Werte künftiger Erträge ermöglichen soll und mit einem Nobelpreis prämiert wurde, zur Herausbildung „einer speziellen Black-Scholes-Welt“ geführt: Weil es sich dabei nicht nur um die Prognostik von Marktereignissen handelt, „sondern um die Einrichtung von Protokollen, nach denen dann die Märkte selbst operieren“ (104), weil Investoren ihre Entscheidungen an den Abschätzungen nach der Black-Scholes-Formel ausrichten, wird die Realität der Theorie nachgebildet. Aber heutiges Handeln gemäß der Ertragsprognose verändert auch den künftigen Sachverhalt, auf den sich die Prognose ursprünglich bezogen hatte. Die rationalen Entscheidungen der vielen Einzelnen erzeugen irrationale Effekte im Ganzen, theoretisch wie praktisch eine ungemütliche Situation.
Für die heutige Finanzwirtschaft spielt die Ablösung des Geldes vom Warentausch, der Übergang von gedeckten zu ungedeckten Währungssystemen, eine zentrale Rolle. Mit der 1973 vollzogenen Aufgabe fester Wechselkurse und der Goldbindung des Dollars beginnt eine Entwicklung, die der Schöpfung von Liquidität durch die Rückbindung des Geldes an eine reale Wertsubstanz keine Grenzen mehr setzt. Mit Derivaten aller Art, mit Futures und Termingeschäften, werden Wetten auf künftig zu erwartende Erträge abgeschlossen, fiktive Profite von morgen werden bereits heute real bewertet, die Zukunft wird sozusagen in die Gegenwart eingepreist. Der Haken daran ist: Zukunft wird nach Wahrscheinlichkeitsmustern der Vergangenheit modelliert – und danach hätte es die Krise von 2007/2008 (sowie andere davor) gar nicht geben dürfen! Man muss – so Vogls Schlussfolgerung daraus – von „regelhaften Unberechenbarkeiten oder unberechenbaren Ordnungen“ ausgehen: „Preis-und Kursverläufe gleichen einem organisierten Chaos mit fraktaler Struktur.“ (146). Mit dem Zweifel an der Prognostizierbarkeit ökonomischer Verläufe hängt der Zweifel an ihren Regelhaftigkeiten direkt zusammen. Und damit steht nicht weniger als das bisherige wissenschaftliche Format des Wissens über wirtschaftliche Vorgänge zur Disposition. DerAutor plädiert deshalb für eine „Säkularisierung ökonomischen Wissens“: Es gehe darum, „Ökonomien ohne Gott, Märkte ohne Vorsehung und Wirtschaftssysteme ohne prästabilierte Harmonien in Rechnung zu stellen“ (176). Gerade die Versicherung (securitization) künftiger Ereignisfolgen sei als Einbruch unbeherrschbarer Kontingenz in die Gegenwart zurückgekehrt: „Das Gespenst des Kapitals kommt stets aus seiner eigenen Zukunft zurück.“ (172). Für die Mehrzahl derjenigen, die nichts zu entscheiden haben, verwandeln sich die nicht beherrschbaren ökonomischen Risiken in elementare Gefahren. Welche Konsequenzen, die freilich nicht mehr auf dem Feld derWissenschaft zu verhandeln sind, ergeben sich daraus? „Ein interessantes Geschäftsmodell ist kein hilfreiches soziales Programm und gegenwärtige Volkswirtschaften werden ganz direkt mit der Frage konfrontiert bleiben, ob und wie lange sie sich die Finanzierung ihrer kapitalistischen Funktionsideen und Strukturen leisten können.“ (178)
Der Autor hält einen Umbau des gegenwärtigen Wirtschaftssystems durchaus für nötig, Rezepte dafür will sein Buch aber nicht liefern. Es geht ihm vielmehr darum, zu verstehen, wie moderne Finanzökonomie eine Welt zu verstehen versucht, die durch sie selbst hervorgebracht wurde. Der kulturphilosophisch geschärfte Blick Vogls ist ein Blick von außen. Ihm fällt dabei manches auf, was in wirtschaftswissenschaftlicher, aber auch wirtschaftsgeographischer Binnensicht nicht im Fokus steht. Eine „Kapitalismusanalyse auf der Höhe der Zeit“, wie der Rezensent der neomarxistischer Anwandlungen absolut unverdächtigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt, die auch jene, die nicht allen Thesen und Schlussfolgerungen des Autors folgen wollen, mit Gewinn lesen werden. Das Buch bietet eine intellektuell anspruchsvolle, das Denken anregende, vielleicht auch auf neue Bahnen lenkende Lektüre, es ist aber auch sprachlich-stilistisch ein Lesevergnügen. Wann bekommt man schon all dies zusammen? Sehr empfehlenswert!
Helmut Schneider
Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 55 (2011) Heft 1-2, S. 117-119
weitere Besprechungen zum Thema:
Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2010.
Norman Backhaus: Globalisierung. Braunschweig (Das Geographische Seminar) 2009.
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