Carmen M. Reinhart, Kenneth S. Rogoff: This time is different. Eight centuries of financial folly. Princeton 2009. 496 p.
Der vorliegenden Band ist Teil einer lawinenartig anwachsenden Literatur zur wissenschaftlichen Aufbereitung der Weltfinanzkrise und ihrer Folgen. Zweierlei hebt ihn aus der Masse dieser Literatur heraus. Zum einen sind es die Autoren: Ken Rogoff, Professor am Department of Economics in Harvard, war von 2001 bis 2003 Wirtschaftsberater und Direktor in der Forschungsabteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und gehört zu den bekanntesten Ökonomen im Bereich internationaler Wirtschaftsbeziehungen.
Carmen Reinhart hat ebenfalls praktische Erfahrung am IWF vorzuweisen und ist durch zahlreiche Publikationen zu Fragen der internationalen Verschuldung, zu Währungs-, Finanz- und Bankenkrisen hervorgetreten. Für beide ist dies nicht ihre erste gemeinsame Arbeit. Der zweite profilgebende Aspekt dieses Bandes ist seine zentrale These, die indirekt in dem gleichsam ironisch zu verstehenden Titel zum Ausdruck kommt: Die Weltfinanzkrise der vergangenen Jahre, die aus der Subprimekrise der USA erwuchs, ist eben nicht anders als frühere Krisen, vielmehr hat sie sich nach einem Muster entwickelt, das im Grund allen Finanzkrisen der Gegenwart und Vergangenheit gemeinsam ist. Diese These zu belegen und die immer wiederkehrenden Krisenmuster aufzudecken, ist das selbstgesteckte Ziel der Verfasser.
Den Kern und Kraftquell der wissenschaftlichen Untersuchung bildet eine von den Verfassern selbst erarbeitete Datenbasis. Im Zeitraum von 1800 bis 2008 erfasst sie Krisen in 66 Ländern, die 90 % der weltweiten Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) repräsentieren. Inhaltlich ist der Band wie folgt gegliedert: Im ersten Teil werden zunächst die Arbeitsdefinitionen erläutert, die für die weitereAnalyse zugrundegelegt werden. Dies betrifft insbesondere die Definition des Begriffs Krise. Des Weiteren wird hier die Datenbasis beschrieben. Dabei wird weitgehend informal nachskizziert, welche Krisenformen existieren und welchen typischen Verlauf diese jeweils haben. Der zweite Teil widmet sich den Krisen durch Ausfall externer Staatsverschuldung. Anschließend wird im dritten Teil die nach Meinung derAutoren in der Literatur bisher unterbewertete interne Verschuldung bzw. deren Ausfall – dies ist statistisch schlechter zu erfassen – untersucht. Der vierte Teil geht auf verschiedene Krisenformen ein, insbesondere auf Banken-, Währungs- und Inflationskrisen. Der Vergleich der Subprimekrise von 2007 mit vergangenen Krisen, die Skizzierung des This-time-is-different-Syndroms und die Untersuchung der contagion, der grenzüberschreitenden Ansteckung bzw. Krisenübertragung, bilden die zentralen Themen des fünften Teils. Im Schlussteil wird untersucht, welche Lektionen aus der gegenwärtigen Krise gezogen werden können, also welche ökonomischen Indikatoren vor der gegenwärtigen Krise robuste Warnsignale gegeben haben und somit zur Krisenprävention eingesetzt werden könnten. Ebenso wird hier die zukünftige Rolle von internationalen Institutionen bei der Vermeidung zukünftiger Krisen diskutiert.
Betrachtet man den wissenschaftlichen Beitrag des vorliegenden Bandes im Kontext der ökonomischen Fachdebatte, so ist er eher derMainstreamökonomik zuzuordnen. Globalisierungskritik wie sie etwa Joseph Stiglitz bietet, oder einseitige wirtschaftspolitische Stellungnahmen, wie sie von Paul Krugman auf den Kommentarseiten der New York Times zu lesen ist, wird man hier nicht finden. Die Ökonomik von Reinhard und Rogoff hat einen orthodoxen Kern, der den IWF-Hintergrund der beiden nicht leugnet. Als zentralen Krisentreiber stellen sie die übermäßige Staatsverschuldung heraus. Neben der oft analysierten externen Verschuldung (Auslandsverschuldung) bewerten sie die interne als mindestens genauso wichtig. Darunter sind beispielsweise Staatsschulden bei den Bürgern des eigenen Landes zu verstehen oder Schulden von Haushalten und Unternehmen gegenüber dem Finanzsektor des eigenen Landes. Die bisher nur unzureichend gewürdigte Bedeutung dieser internen Verschuldung kann Finanzkrisen in Ländern mit relativ geringerAuslandsverschuldung erklären.Anhand ihrer Datenbasis können die Autoren zeigen, dass das durchschnittliche Verhältnis der Gesamtverschuldung zur Wirtschaftsleistung während eines external default (Zahlungsausfall auf Auslandsverschuldung) fast doppelt so groß ist wie das Verhältnis der Auslandsverschuldung zur Wirtschaftsleistung. Mit anderen Worten: die interne Verschuldung addiert sich wie ein zusätzlicher Ballast zur Auslandsverschuldung und wird damit zu einem wichtigen Krisenfaktor. Deshalb treten interne und externe Zahlungsausfälle oft zusammen auf und verstärken die entsprechenden Auswirkungen. Als weiteren wichtigen Krisentreiber filtern die Verfasser Bewegungen der Eigenkapital- bzw. Hauspreise aus ihrer Datenbasis heraus. Unabhängig von der Ländergruppe (Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer) steigen diese vor Bankenkrisen signifikant an; so geschehen unter anderem vor den Krisen in Argentinien, Russland und Mexiko sowie vor der Asienkrise des Jahres 1997. Weitere Krisentreiber sind Zahlungsbilanzdefizite, insbesondere in der Leistungsbilanz, ine sich abschwächende Konjunktur sowie Maßnahmen der Liberalisierung und Deregulierung im Finanzsektor. Insbesondere die krisentreibende Wirkung von Liberalisierung und Deregulierung liefert Argumente für eine Re-Regulierung der Finanzmärkte.
Als den wichtigsten Faktor für die Krisen bezeichnen dieAutoren das This-time-is-different-Syndrom. Sie meinen damit, dass charakteristische Bewegungen von Indikatoren im Vorfeld von Krisen wieder und wieder nicht als solche anerkannt oder bewusst ignoriert werden. Die gängige Begründung dafür ist, dass „heute alles anders ist als früher“. Angeblich sind die Finanzmärkte unter anderem effizienter als früher, die institutionellen Rahmenbedingungen sind besser als in der Vergangenheit, die Wirtschaft ist „neu“ und nicht mehr „alt“. Mit solchen oder ähnlichen Argumenten wird begründet, dass Krisenindikatoren keinen Grund zur Besorgnis darstellen und deshalb nicht beachtet werden müssen. Mit umfangreichen deskriptiven wirtschaftshistorischen Analysen, aber auch mit Länder- und regionalen Vergleichen wird dem Leser deutlich gezeigt, dass die aktuelle Krise strukturell kaum Überraschungen enthält und eben nicht anders ist, als die Krisen vergangener Jahrzehnte. Bei ihrer Falsifikation des This-time-is-different-Syndroms gehen die Verfasser intuitiv plausibel und weitgehend deskriptiv vor. Auf die Nutzung ökonometrischer Modelle oder komplexer ökonomischer Theorien verzichten sie. Diese Darstellungsform wird hoffentlich den Leserkreis dieses äußerst lesenswerten Bandes über die engen Fachgrenzen hinaus ausweiten und ihn einer breiteren Leserschaft außerhalb der ökonomischen Fachdisziplin zugänglich machen.
Tobias Weirowski
Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 55 (2011) Heft 1-2, S. 119-120
weitere Besprechungen zum Thema:
Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2010.
Norman Backhaus: Globalisierung. Braunschweig (Das Geographische Seminar) 2009.
Joseph Vogel: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010.
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