Elmar Altvater: Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur. Münster 2010. 261 S.
"Systemkrise im Singular oder multiple Krise im Plural?" (9), lautet die einleitende Frage. Eine ›multiple Krise‹ erlaube es, verschiedene Krisen separat zu bearbeiten. Ein gelungenes ›Wachstumsbeschleunigungsgesetz‹ könne etwa die Wirtschaftskrise mildern, jedoch gleichzeitig die Klima- und Energiekrise zuspitzen. Verf. hingegen plädiert dafür, die verschiedenen Krisenerscheinungen als Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems, als Systemkrise im Singular, zu begreifen. Die gegenwärtige Krise übertreffe die Krise der frühen 1930er Jahre "in jeder Hinsicht", nicht nur ökonomisch, sondern weil sie es erforderlich macht, "das gesellschaftliche Naturverhältnis, den Energieverbrauch und Umgang mit den fossilen Verbrennungsprodukten" neu zu ordnen (32).
Verf. entwickelt sein Verständnis der kapitalistischen Krise ausgehend von Marxens Begriff des Doppelcharakters. Er verbindet, im Gegensatz zu neoklassischen oder (monetär) keynesianischen Ansätzen, die Wertebene mit der stofflichen Ebene des Wirtschaftens. Seine Krisenanalyse fokussiert auf zwei Bereiche, das Verhältnis von Finanzsektor zu Realwirtschaft und das gesellschaftliche Naturverhältnis. Er knüpft an seine letzten Bücher an und rekonstruiert die Entwicklung der Finanzmärkte seit den 1970er Jahren, die er angelehnt an Polanyi als neue Stufe der "Entbettung" der Märkte aus der Gesellschaft versteht. Die Ausweitung der Verschuldung, die Verbriefung der Schuldtitel, die Hebelwirkung durch die Aufnahme von Fremdkapital und der Einfluss der Rating-Agenturen stehen für die Verselbstständigung des Finanzsektors. Sobald jedoch der Schuldendienst nicht mehr geleistet werden kann, gerät das System ständig wachsender Renditeansprüche in die Krise. Die Finanzkrise entwickelte sich zur Wirtschafts- und Währungskrise weiter, selbst überzeugte Neoliberale riefen nach dem Staat als Retter. "Das Kriterium der Systemrelevanz liefert für beides, für die automobile Verschrottungsprämie und für die Verschrottung der toxischen Papiere in ›bad banks‹ gegen viele Milliarden guten Zentralbankgeldes die Rechtfertigung." (79) Der Staat transformiere sich in der Krise zu einem "ideelle[n] Gesamtbankier" (76). Die Schulden der Banken werden sozialisiert, Konjunkturpakete geschnürt, die öffentliche Verschuldung massiv ausgeweitet. Die Rechnung wird in Form von Sparpaketen präsentiert, die Finanzkrise "als Gelegenheit der Umverteilung von unten nach oben genutzt" (10). Diese Entwicklungen kulminieren in Staatskrisen, die verbunden mit den Ungleichgewichten innerhalb des Euroraums das europäische Integrationsprojekt in Frage stellen.
"Wir müssen aus der bisher vermessenen Welt des autopoetisch erzeugten fiktiven Kapitals in die Niederungen der realen Produktion jener Überschüsse hinabsteigen, aus denen die Finanzalchimisten die hohen Renditen abzweigen." (129) Mit diesen Worten leitet Verf. die Analyse der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ein. Eine zentrale Kategorie zu deren Analyse ist die Grenze: Auf dem begrenzten Naturraum Erde könne es kein grenzenloses Wachstum geben, die Renditeforderungen der entbetteten Finanzmärkte stoßen zwangsläufig an Schranken. Die Prognosen des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums "hatten einen richtigen Kern, nur das ›timing‹ war verfehlt" (172). Die "Plagen der Moderne: Peak Oil, Klimakollaps und Ernährungskrise" (155), markieren als "Emanationen des fossilen Akkumulationsregimes" (158) dessen Grenzen. Er kritisiert die herrschenden Antworten, wie marktbasierte klimapolitische Ansätze, die "zwar einen positiven Beitrag zur Wertpapierspekulation leisten" können, ihr "Beitrag zum Klimaschutz ist hingegen negativ" (178). Peak Oil und der Klimawandel befeuern die Suche nach alternativen Energiequellen. Doch der Anbau von Energiepflanzen führe zu Nutzungskonkurrenzen und einer Verschärfung der globalen Hungerkrise. Sinkende Profitraten sind Ausdruck dafür, dass die Verwertung des Kapitals immer schwieriger wird. Unter Rekurs auf Rosa Luxemburg und David Harvey wird die zunehmende Gewaltförmigkeit der Kapitalakkumulation aufgezeigt, die allerdings auch Gegenbewegungen auslöse.
Reparatur, Reform oder Sozialismus sind die Szenarien, die Verf. beschreibt. Die gegenwärtige Bearbeitung der Krise(n) sieht er als restaurativen Akt: Der kapitalistische Wachstumspfad soll fortgesetzt, bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht angetastet werden. Reformansätze, die prominent unter dem Schlagwort ›Green New Deal‹ geführt werden, können die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung auch nicht auflösen. Als einzig gangbare Option bleibe, ein "Sozialismus des 21. Jh.: solar, demokratisch, solidarisch" (238). Diese Vision bleibt allerdings vage und geht nicht über bereits früher Skizziertes von Altvater hinaus. Doch er formuliert Leitlinien einer radikalen Transformation, die noch einer theoretischen
wie praktischen Konkretisierung bedürfen.
Tobias Haas (Berlin)
Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 474-475
weitere Besprechungen zum Thema:
Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2010.
Norman Backhaus: Globalisierung. Braunschweig (Das Geographische Seminar) 2009.
Joseph Vogel: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010.
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