Eisel heute? Besprechungssymposium zu Ulrich EISEL (2009):Landschaft und Gesellschaft. Räumliches Denken im Visier.
Im Herbst 2009 erschien in der Reihe „Raumproduktionen“ der Band „Landschaft und Gesellschaft. Räumliches Denken im Visier“, in dem Arbeiten Ulrich EISELs aus den 1980er Jahren neu abgedruckt sind, ergänzt durch einen bislang unveröffentlichten Text aus dem Jahr 1993 („Orte als Individuen“). Hinzu kommen eine neue Einleitung („Die Hintergründe des Raumes“) sowie Vorworte von Benno WERLEN und dem zuständigen Herausgeber der Reihe, Bernd BELINA. Im vorliegenden Beitrag haben wir uns als Vertreter_innen einer späteren Generation von Wissenschaftler_innen – geboren in den Jahren um Ulrich EISELS erste Publikationen im Geografiker (1970) – die Aufgabe gestellt, die Frage zu diskutieren, was uns seine Arbeiten aus den 1980ern zu Raum und Natur heute sagen könnten und sollten.
Wie, so könnte man auch formulieren, kann man sich diese Texte heute aneignen, da manche der Debatten, in die sie interveniert und die sie mit geprägt haben, nicht mehr auf der Tagesordnung stehen? Im Folgenden versuchen wir diese Frage aus unserer jeweiligen Perspektive zu beantworten. Die Reihenfolge ergab sich aus folgender Überlegung: Zunächst rekonstruiert und analysiert Eva GELINSKY zentrale Aspekte von EISELS Denken und illustriert dieses, indem sie es mit aktuellen Debatten aus Naturschutz und Biologie auf zwei konkrete Fälle anwendet. Es folgt Antje SCHLOTTMANN, die der Frage nachgeht, wie mit EISEL das Revival der Natur in der angloamerikanischen Geographie im Kontext von actor network theory, Hybridität und non-representational theory einzuordnen wäre. Während Markus WISSEN im Anschluss daran die Arbeiten EISELS einer marxistisch fundierten Kritik unterzieht, konfrontiert Bernd BELINA EISELS Verständnis von Geographie – Geographie als notwendig konservativ – mit der radical geography und einer an die Praxis von Geograph_innen anschließenden Aktualisierung dessen, was „Geographie“ sein kann.
Bernd BELINA (Frankfurt/M.)
Eva GELINSKY (Göttingen)
Antje SCHLOTTMANN (Frankfurt/M.)
Markus WISSEN (Wien)1
1 Grundfragen der Moderne oder: Warum die Geographie keine besondere Wissenschaft ist
1.1 „Konkreter Mensch im konkreten Raum“2 – zum Weltbild der Geographie
Meinen ersten Text von Ulrich EISEL (1992) las ich noch im Grundstudium der Geographie in Göttingen. Ich war damals begierig, etwas über die Geographie als Fach und ihre Naturbegriffe zu erfahren, doch ich verstand kaum ein Wort und kämpfte mit der komplizierten Sprache und der mir unbekannten philosophischen Terminologie. Erst viel später begriff ich, dass einiges an nicht-geographischem Vorwissen3 nötig ist, um diese Texte verstehen zu können.
Der Frage, was die Geographie für eine Wissenschaft ist, näherte ich mich im Folgenden zunächst anhand der Texte von Gerhard HARD. Es war auffällig, dass dessen Texte durchaus rezipiert und mal wohlwollend, mal kritisch besprochen wurden; über die EISEL’sche Metatheorie der Geographie las ich dagegen kaum etwas. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass dies nicht nur an der schwierigen Sprache, sondern an dessen theoretischem Ansatz und der dazugehörigen Kritik lag: Keiner der (vermeintlich) kritischen Geographen hatte die gleiche erkenntnistheoretische und politische Distanz zur Geographie wie er. Während jene die Geographie, ungeachtet der von ihnen selbst geäußerten Kritik, zu retten oder zu rehabilitieren versuchten (vgl. HARD 1989 u. 1990), urteilte EISEL umso ver-nichtender: Die Geographie sei strukturell konservativ und aus diesem Grund nicht zu modernisieren (vgl. EISEL 2009, 203f.).4 Folgerichtig war für ihn auch der Paradigmenwechsel der 1960er Jahre zum Scheitern verurteilt (vgl. ebd., 280ff.).
Der EISEL’schen Metatheorie näherte ich mich schließlich über einen zweiten, diesmal sehr produktiven Umweg – den Büchern und Texten von Ludwig TREPL über die Geschichte der Ökologie, über ökologische Paradigmen und populäre ökologische Weltbilder (etwa TREPL 2005). Ich lernte, dass sich Ökologie und Geographie in ihrer Welt- und Natursicht sehr ähnlich sind und dass der traditionellen Geographie die gleiche Vorstellung der Organisation der Welt zugrunde liegt, wie dem christlichen Humanismus:5 „Das klassische landschafts- und länderkundliche Paradigma der Geographie ist eine Theorie des neuzeitlichen Subjekts, die den christlich-humanistischen Individualitätsbegriff gegen die Angriffe des Liberalismus und der Aufklärung und materiell gesehen gegen den Industriekapitalismus verteidigt.“ (EISEL 2009, 284) Auch lernte ich, dass das Besondere der Geographie – im Gegensatz zum christlichen Humanismus – darin besteht, dass sie das Entwicklungsprinzip der Vervollkommnung, was für jenen so zentral ist, auf den konkreten Raum, die Landschaft, überträgt. Dies bedeutet, dass die Geographie das Allgemeine und das Individuelle inhaltlich anders bestimmt, an ihrem Verhältnis (das Individuelle repräsentiert und verwirklicht das Allgemeine) jedoch nichts ändert: „Es handelt sich wieder um das Prinzip der Existenz jener gläubigen Menschen, die das göttliche Prinzip realisieren. Nur ist Gott jetzt die alles umfassende, kosmische Natur, und das empirische Gegenprinzip dazu ist die Landschaft.“ (EISEL 1997, 75)
Als räumliche Wissenschaft versucht die Geographie den konkreten Raum als Ganzes zu erfassen. Es werden also nicht, wie in den systematischen Wissenschaften, Teilbereiche untersucht. Vielmehr wird der Anspruch formuliert, das Zusammenspiel aller Faktoren zu erfassen. Noch in den 1960er Jahren hieß es: „Die Geographie … hat … die Aufgabe der Synopsis, der Korrelation, der kombinatorischen Zusammenschau. Das legitime Objekt ihrer Forschung: die Landschaft, zwingt sie dazu, denn in ihr ist alles enthalten.“ (GEIPEL 1962, 489, zit. nach SCHULTZ 1980, 234; Hervorhebung: E.G.) Doch damit nicht genug. Das Faszinierende und Verstörende der Geographie ist ihr offensichtlich normativer Anspruch. Denn das „Zusammenspiel“ aller Faktoren in der Landschaft soll harmonisch sein. Dies ist nur dann der Fall, wenn das konkrete Mensch-Natur-Verhältnis gelungen ist. Landschaften „sind konkrete Räume konkreten Lebens – wenn das Mensch-Natur-Verhältnis gelingt. Gelingt es nicht, entstehen öde Städte und Agrarwüsten bzw. sogenannte ausgeräumte Landschaften. Das sind keine mehr. Gesellschaftliche Prozesse werden daraufhin beurteilt, ob harmonisch wirkende Ganzheiten räumlicher Eigenart vorliegen“ (EISEL 2009, 285). Alle Kulturen sollen ihre konkrete Umwelt in „harmonisch wirkende Ganzheiten räumlicher Eigenart“, also in Landschaften verwandeln. Nur auf diese Weise entwickelt sich die Welt, die ihrerseits eine harmonisch wirkende Ganzheit darzustellen hat, zu dem, was sie aus Sicht der Geographie sein soll: Zu einer organischen, also individuellen Einheit in der Vielfalt (der Kulturen): „Die Welt entwickelt sich, indem besondere Charaktere [die lokalen Kulturen] sich in besonderen Situationen [ihrer konkreten Umwelt] bewähren, und sie entwickelt sich richtig, wenn genau darauf geachtet wird. Dann differenziert sich das gewaltige Feld individueller Möglichkeiten gemäß dem gegebenen Rahmen von wechselnden Bedingungskonstellationen zu einer optimalen Vielfalt von Eigenarten aus. Es ist die Idee der Individualität, die es erlaubt, Variabilität und Konstanz widerspruchsfrei zu verbinden, denn vielfältige Eigenart gehört zu ihrem Wesen. Wenn das als geschichtlicher Prozess gedacht wird, dann entwickelt sich eine Vielfalt von besonderen Kulturen in unterschiedlichen Landschaften immer höher, d. h. ihrer Eigenart und der Eigenart der Landschaft gemäß.“ (EISEL 2004b, 201)
Konservatives Denken hat also nichts mit einem Gebot der Unterwerfung des Individuums bzw. der Gesellschaft unter ein natürliches (oder naturwüchsiges) Ganzes und die strikte Anpassung an bestehende Bedingungen zu tun. Insofern trifft auch die immer wieder geäußerte Kritik, die traditionelle Geographie sei geodeterministisch, nicht zu. Im Zentrum der (traditionellen) Geographie und des Konservatismus steht die Idee der Anpassung durch Bewährung und nicht die Vorstellung, dass die Natur die Kultur determiniert: „Das umgebende Paradigma ist so konstruiert, dass Anpassung von Leben – biologisch oder sozial – nicht objektivistisch-naturalistisch und nicht deterministisch definiert wird. Stattdessen wird sie als gestaltende, nicht-mechanistische, liebevolle Aneignung von Umwelten durch Individuen – ob einzelne oder Gemeinschaften – definiert, die damit ihre Freiheit organisch entwickeln. Das ist die philosophische Grundkonstruktion des Konservatismus.“ (EISEL 2005, 56)
Wie verbreitet die konservative Idee der Vielfalt und Eigenart auch außerhalb der Geographie ist, erkannte ich, als ich im Rahmen meiner Dissertation die Ideologie der Organisation Slow Food analysierte. Es zeigte sich zweierlei: Erstens lässt sich die Idee der Vielfalt und Eigenart modernisieren, was aber nicht zwangsläufig etwas an ihrem konservativen Gehalt ändert6 und zweitens ist dies auch eine Voraussetzung dafür, dass die traditionelle Geographie (innerhalb und außerhalb des Fachs) immer wieder neu erfunden werden kann: „Primär im Rahmen ,alternativen‘ Denkens und Handelns wird die Geographie – kaum dass sie sich aus edlen Gründen wissenschaftstheoretisch selbst abzuschaffen versucht – munter neu erfunden und angepriesen. Diejenigen, die über sie als Schulfach eher immer gelacht haben, vertreten sie nun in Wissenschaft und Politik, ohne es zu ahnen. Das bedeutet: Die konservative Zivilisationskritik, der die Geographie immer verpflichtet war, tritt nun – geheiligt durch ökologisches Krisenbewusstsein – als fortschrittliches Bewusstsein auf den Plan.“ (EISEL 2009, 284)
Als Leitfrage unseres gemeinsamen Besprechungsartikels hatten wir formuliert, was uns EISELS Arbeiten heute noch zu „Raum“ und „Natur“ in der Geographie und anderswo sagen könnten oder sollten. Mir, die ich schon seit einigen Jahren nicht mehr an der Universität (und auch nicht als Geographin) tätig bin, hat die Beschäftigung mit den EISEL’schen Arbeiten vor allem eines gezeigt: dass und wie die Geographie Ideen verarbeitet, die für das moderne Denken konstitutiv sind. Daraus ergab sich für mich zweierlei: Erstens ist die Geographie nicht so wichtig, wie Geographen immer meinen. Sie ist ein (eher kurioses) Fach, das sich – genau wie alle anderen – mit einigen Grundfragen der Moderne auseinandersetzt, dabei jedoch bestimmte Antworten, nämlich jene, die in die konservative Zivilisationskritik münden, bevorzugt. Zweitens wurde mein Blick für außergeographische, vor allem populär-ökologische Diskurse und Ideologien geschärft. Mir wurde klar, dass auch hier moderne Grundfragen thematisiert werden und hierbei „geographische“ Argumentationsmuster häufig Verwendung finden. An zwei Beispielen soll dies abschließend gezeigt werden.
1.2 Jenseits der Geographie – „Naturbilder sind keine Bilder aus der Natur“7
Der EISEL’sche Ansatz hatte zum Verständnis dieser Ideologien insofern die Grundlage gelegt, weil ich durch ihn gelernt hatte, dass jeder politischen Theorie bzw. Ideologie eine Philosophie zugrunde liegt (vgl. EISEL 2004a, 37 u. 2009).8 Alle modernen Positionen untergliedern sich in solche Ebenen – neben der politischen lassen sich eine ontologische oder weltanschauliche und eine erkenntnistheoretische Ebene unterscheiden. Auf der politischen Ebene, die historisch später formuliert wird, „kann niemals etwas anderes gedacht oder ausgeführt werden als das, was auf den beiden darunter liegenden Ebenen an Kombinationsmöglichkeiten bereitliegt“ (EISEL 2004a, 37). Erst wenn die drei Ebenen identifiziert und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt sind, lässt sich kontrolliert über eine konkrete Position sprechen. Erst dann werden auch die inneren Widersprüche einer Argumentation sichtbar. Mit Hilfe dieses Schemas wird beispielsweise erkennbar, dass sich unter populären Begriffen wie Vielfalt oder auch Nachhaltigkeit unterschiedliche, teilweise konträre Positionen vereinigen. Die gemeinsam benutzten Begriffe und Formeln – wie die Forderung nach der Erhaltung der Biodiversität – können also, wenn sie unterschiedlichen Philosophien entstammen, nicht dasselbe bedeuten. Um hier zu differenzierten Aussagen zu kommen, anstatt oberflächlich über Ähnlichkeiten und Missverständnisse zu reden, müssen die „tiefer liegenden“ Ebenen berücksichtigt werden. Dabei entscheidet die Definition zentraler Ideenelemente auf der weltanschaulichen und erkenntnistheoretischen Ebene nicht nur, ob eine Verständigung oder gar Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Gruppierungen gelingen kann. Da Festlegungen auf diesen Ebenen notwendig mit bestimmten politischen Aussagen verbunden sind, ist auch die gesellschaftliche Wirkungsmacht einer Position bis zu einem gewissen Grade vorentschieden (vgl. EISEL 2003).
Darüber hinaus wird mit Hilfe des EISEL’schen Ansatzes deutlich, dass – sei es im Naturschutz oder in anderen weltanschaulich-ökologischen Diskursen – eigentlich politische Anliegen immer wieder als naturwissenschaftliche Tatsachen ausgegeben werden: „Moderner Naturschutz ist Arten- und Biotopschutz. Der begründet sich als politisches Anliegen naturwissenschaftlich. Das ist merkwürdig. Die Notwendigkeit des Unternehmens überhaupt wird mit dem Verlust von Arten durch gesellschaftliche Aneignung von Natur begründet und damit, dass die Erhaltung der Vielfalt für die Reproduktionsmöglichkeit der Gesellschaft wichtig sei (sowie mit dem Eigenwert einer Natur, die angeblich aus sich selbst heraus Vielfalt anstrebt). Das ergibt einen Zirkel, denn die zu begründende gesellschaftliche Schutznorm wird aus der ökologischen Relevanz von Vielfalt gefolgert; diese Relevanz folgt aber ihrerseits gerade aus jener zu begründenden politischen Norm. […] Durch dieses Kurzschlussverfahren, in dem ein politisches Anliegen mittels einer naturwissenschaftlichen Theorie verschleiert wird, entsteht eine Art moralischer Sachzwang, dem man nur um den Preis der Blasphemie entgegentreten kann: Sünde sowohl gegen das Wesen der Natur als auch gegen die Zukunft der Menschheit.“ (EISEL 2007, 25f.) Den Positionen, die eine Erhaltung der Vielfalt fordern, liegen demnach keine naturwissenschaftlichen Theorien, sondern gesellschaftlich erzeugte Vorstellungen des Subjekts und der modernen Gesellschaft zugrunde. Es sind diese Sinnkonstruktionen, die, weil sie auf die Natur projiziert werden, die Wahrnehmung der Natur konstituieren. Anschließend wird mit Hilfe von an der Natur gewonnenen „Fakten“ eine bestimmte gesellschaftliche Praxis legitimiert: „Es wird nicht eine politische Selbstlegitimation formuliert und mit gesellschaftlichen Interessen begründet, sondern umgekehrt: Nachdem die politische Doktrin auf dem Wege über die Wissenschaft längst in die Natur hineingelesen wurde, wird sie anschließend dort naiv – und scheinbar unabhängig – aufgesucht und zur höheren Weihe der eigenen Interessen durch Nachweis eines natürlichen Ursprungs der politischen Doktrin herangezogen.“ (EISEL 2004a, 41)
Als ein weiteres Beispiel, das zeigt, dass und wie einen der EISEL’sche Ansatz von der Diskursoberfläche zu den eigentlichen Kernfragen führt, lässt sich die aktuelle Diskussion über einen Paradigmenwechsel in der Biologie anführen (vgl. HANZIG-BÄTZING 2009; THEN 2008). Worüber wird hier eigentlich gestritten? Welche Positionen stehen sich, scheinbar so unversöhnlich gegenüber? Auf der einen Seite, so die Behauptung, stehe das kausal-mechanistische Denken, das letztlich auf die Philosophie Descartes’ zurückzuführen sei. Dessen wesentliches Merkmal in der Neuzeit sei, dass es Leben als etwas „vollständig Beherrschbares, Berechenbares und Kontrollierbares“ auslege (HANZIG-BÄTZING 2009, 66). In der zur „Lebenswissenschaft“ erklärten Biologie zeige sich dies in der Definition dessen, was ein Organismus sei: „… der Organismus und seine Lebensprozesse [wurden] als vollständig berechenbare und somit voraussagbare Größe definitorisch auf den Begriff gebracht. Das heißt, Leben wurde wie ein technisch vollständig analysierbarer Gegenstand behandelt“ (ebd., Hervorhebungen im Original). Aktuelle Forschungsergebnisse zeigten nun aber, dass diese Definition von Leben nicht der Realität entsprechen könne. Folgerichtig seien auf der anderen Seite Ansätze im Entstehen begriffen, die einen Paradigmenwechsel in der Biologie einleiten wür-den: „Das alte Paradigma kippt: Bisher konnte man … von der Annahme ausgehen, dass es mit steigendem Wissen über die ‚Natur des Lebens‘ immer einfacher werden würde, Prozesse wie Wachstum und Fortpflanzung der Lebewesen zu kontrollieren. … Doch kann inzwischen nicht mehr erwartetet werden, dass durch die Forschung ganz automatisch auch das Wissen über technisch determinierbare Prozesse zunehmen wird. Im Gegenteil, durch das Bekanntwerden immer neuer Details nimmt die Komplexität der beobachtbaren Phänomene so sehr zu, dass inzwischen klar ist, dass die bisherigen Modelle zu ihrer Erklärung nicht ausreichen. Die Phänomene des ‚Lebens‘ und der ‚Evolution‘ folgen nichtlinearen, hochkomplexen Regeln, die sich einer Vorhersagbarkeit und Beherrschbarkeit weitgehend entziehen.“ (THEN 2008, 11f.) Geht es hier, wie der erste Eindruck vermitteln mag, um einen innerwissenschaftlichen Streit um Theorien bzw. Paradigmen? Oder – dies wäre der EISEL’sche Ansatz – wird hier zunächst um philosophische bzw. weltanschauliche Grundfragen und, im zweiten Schritt, um daraus abgeleitete politische Positionen gestritten? Und warum spielt das Leben in dieser Auseinandersetzung eine so zentrale Rolle? Beantworten lassen sich diese Fragen nur, wenn man, wie EISEL es immer getan hat, tiefer schürft und versucht zu verstehen, was das moderne Denken ausmacht und welche Widersprüche – zum Beispiel jenen, dass beim Anblick eines Organismus teleologisch gedacht werden muss, aber nicht sollte (TREPL 2005, 454ff.) – es bis heute prägen (vgl. EISEL 2002).
Eva GELINSKY
2 Ulrich EISEL, die Natur und die Hybriden – einige Fragen
Im Fokus des Schaffens von Ulrich EISEL stehen Themen, die aktueller und praxisrelevanter kaum sein könnten. Mit dem Anspruch, die im zeitgenössischen Diskurs kritisierten Ideologien und Paradigmen nicht schlicht zu verwerfen, sondern vielmehr ihre Funktionalität und gesellschaftliche Bedeutung im historischen Kontext zu beobachten, wendet er sich immer wieder der Natur zu. Seine Frage nach der kulturellen Konditionierung der Fragestellungen und Forderungen etwa des Landschafts- und Naturschutzes vollzieht dabei früh den so genannten cultural turn, ein Label, unter dem später diverse raum-und naturbezogene geographische Ansätze laufen, die nicht halb so konsequent und begriffsscharf operieren.
In seinem Vorwort zu der vorliegenden Sammlung früher Arbeiten EISELS macht Bernd BELINA (2009, 7) allerdings auch auf die Abwesenheit der Beschäftigung mit EISELs Werk an den meisten geographischen Instituten aufmerksam. „Schwer verständlich“ ist einer der genannten Gründe hierfür, der vermutlich auch auf die Abwesenheit tiefer gehender fachgeschichtlicher und wissenschaftstheoretischer Beschäftigungen in den Studienplänen verweist, ohne die EISELs Gedankengängen in der Tat kaum zu folgen ist.
Wie aber ist es um das Verhältnis zwischen Ulrich EISEL und dem englischsprachigen Diskurs im Feld der Humangeographie bestellt? Wenig rezeptive Kontaktstellen sind auszumachen. Auf der anderen Seite ist aber auch nicht klar, ob „die Geographie“, von der EISEL so oft pauschal spricht, sich über den von ihm analysierten deutschsprachigen ideengeschichtlichen Kontext hinaus erstreckt.
Doch die theoretische Weiterführung der Debatte um die Mensch-Umwelt-Beziehungen – ein Kern von EISELs Beschäftigung – ist in den letzten Jahren maßgeblich im englischsprachigen humangeographischen Diskurs versucht und vollzogen worden. Im Gefolge der Akteurs-Netzwerk-Theorie (u.a. LATOUR 1993) entstand dort ein Trend, die materielle Natur in die Theorie heim zu bringen. Und es sind ja gerade die Modewellen, die es mit EISEL bezüglich ihrer Funktionalität und gesellschaftlichen Bedeutung zu lesen gilt. Hierzu soll im Folgenden ein (angesichts der Tiefe von EISELs Werk durchaus oberflächlich anmutender) Anstoß gegeben werden, indem einige Fragen aufgeworfen werden. Dabei sind die Texte „die Hintergründe des Raumes“ sowie „konkreter Mensch in konkretem Raum“ (EISEL 2009) maßgeblicher Hintergrund.
2.1 Natur, Subjekt und Landschaft
Um EISELs theoretischen Zugriff auf Natur zu begreifen, ist jedes alltagsweltliche Naturverständnis beiseite zu legen. Natur wird von der Gesellschaft her gedacht und zur Metapher für Subjektverhältnisse: „Alles, was je über das Wesen der Natur ausgesagt wurde, ist ein Versuch, die Stellung des Subjekts in der Welt zu ergründen.“ (EISEL 2009, 24) Die Idee der Einheit der Natur setzt EISEL als kongruente Klammer der traditionellen und modernen Geographie (ebd., 23ff., 284). Die Domäne der Geographie ist es, so EISEL, „Gesellschaftstheorie zu betreiben, aber dabei nie den Aspekt der Relevanz der Naturanpassung für die innergesellschaftliche Dynamik [zu] vernachlässigen“ (ebd., 23). Natur entpuppt sich dann – im Sinne KUHNs – als erfolgreicher „Kniff“, „unsere sehnsüchtigen Bemühungen um eine möglichst umfassende Individualität und Persönlichkeit in die Welt zu projizieren“ (ebd., 28).
Allfällige Paradigmenwechsel müssten sich daher nicht in einer Abkehr vom Gegenstand Natur, sondern in einer Differenz der Natur- und damit der Subjektbegriffe zeigen (ebd., 23). Einen entsprechenden Paradigmenwechsel sieht EISEL in einer Verschiebung von der konkreten zur abstrakten Natur im Zuge der Entwicklung von der Landschafts- bzw. Länderkunde zur Geographie als analytischer Raumwissenschaft. Das Festhalten an der Landschaftskunde ist ihm zufolge ein Festhalten am christlich-humanistischen Individualitätsbegriff, den es gegen liberalistische und aufklärerische Subjektkonstitutionen zu verteidigen gilt (ebd., 283f.).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie – als Reaktion auf den constructivist turn – die in der englischsprachigen Geographie von einigen Vertreter_innen explizit propagierte radikale Abkehr vom analytischen Wissenschaftsverständnis einzuordnen ist.
2.2 Hybride Verstrickungen (ANT/NRT mit EISEL gelesen)
Die Kritik von Akteurs-Netzwerk-Ansätzen, non-representational theory sowie der dwelling theory richtet sich auf die dualistische Trennung von Natur und Gesell-schaft. Diese sei, so die Vertreter_innen, ihrerseits eine soziale Konstruktion, die uns die Einsicht in das Wesen der materiellen und nicht-materiellen Gegenstände als hybride Entitäten verwehre (MURDOCH 1997; THRIFT 1999 u. 2007; THRIFT u. DEWSBURY 2000; WHATMORE 2002). Von den Vertreter_innen wird also versucht, den Naturbegriff (und sein konstitutives Anderes) zu überwinden. Als Konsequenz wird nach einer Sprache gesucht, die die „heterogene Verstrickung“ (WHATMORE 2002) bzw. die „socionatures” jenseits dualistischen Denkens adäquat abzubilden vermag (SWYNGEDOUW 1999, 447). Die Landschaft erfährt im Zuge dessen eine Renaissance: „Dwelling suggests a perspective which is about being in the landscape, about moving through it, in all the perhaps repeating yet various circumstances of everyday life“ schreiben CLOKE und JONES (2001, 663).
Dementsprechend zielen die Konzeptionen auf eine quasi-analoge (nicht-analytische, sinnliche) Erfassung von Welt. Methodisch kommt man so – durchaus konsequent – zu der aus anderem Zusammenhang stammenden Forderung: „we would have to memorise and remember the land, walk it, eat from its soils and from the animals that ate its plants. We would have to know its winds, inhale its airs, observe the sequence of its flowers in the spring and the range of its birds.“ (LOPEZ 1992, 6 zit. in CLOKE u. JONES 2001, 653) Daraus ergibt sich dann in der Tat, folgt man THRIFT und DEWSBURY (2000, 427), eine Verschiebung weg von einer Wissenschaft der diskursiven Bedeutung hin zu „an art of evocation", und WHATMORE (2002, 7) betont: „Hybrid geographies work to invigorate the repertoire of practices and poetics that keep the promise of the Geographical craft alive“.
An diese Ansätze schließen sich viele epistemologische Fragen an, denen es anderweitig lohnt nachzugehen. Hier soll aber die EISEL’sche Brille aufgesetzt und Natur konsequent als Projektionsfläche gesellschaftlicher Subjektkonstitutionen verstanden und betrachtet werden. Was folgt aus dieser Wendung hin zum „eigenartigen“ Wesen sozio-natürlicher Einheiten, eine Wendung, die sich selbst sowohl post-konstruktivistisch als auch post-humanistisch, nicht aber explizit phänomenologisch nennt? Ist hier ein originärer Neustart geographischen Tuns zu erwarten, oder haben wir es mit „altem Wein in modischen neuen Schläuchen“ zu tun, wie es EISEL der Humanökologie und dem ökologischen Diskurs attestiert (2009, 304)? Und wenn Letzteres, was folgt wiederum daraus?
Diese Fragen sollen und können hier nicht abschließend beantwortet werden und dies bedürfte auch einer sehr viel differenzierteren Betrachtung. Es spricht jedoch viel dafür, dass es auch bei dieser Strömung um die Wiedereinführung der Eigenge-setzlichkeit der Natur geht und – wie es EISEL (2009, 284) eigentlich allen geographischen Strömungen unterstellt – um die Rückkehr zur konkreten Natur im konkreten Raum und damit zu einem ideographischen Landschaftskonzept. Die Betonung einer als Kunst zu verstehenden Praxis der Landschaftserfassung verweist darauf, dass es hier um nicht weniger als eine Rettung der besonderen Stellung der Geographie und einer geographischen Erkenntnisweise geht, wie sie in der Phase der Landschaftsgeographie etwa von PASSARGE (1919–1921) oder später SCHMITHÜSEN (1964) vertreten wurde. Eine Verlagerung findet lediglich methodisch von der visuell dominierten Anschauung zum umfassenden Erleben statt. Doch auch die Idee des Wohnens in der Natur, Grundlage der dwelling-theory, war unter Berufung auf Herder ein fester Bestandteil der traditionellen Landschaftsgeographie. Sie vereinte sowohl die Beherrschung als auch die Anpassung an wesentliche Naturvorgaben (EISEL 2009, 289). Auch wenn daraus nicht (wie oft unterstellt) zwingend ein deterministisches Verhältnis von Mensch und Natur folgt, wird doch das intrinsische Wesen einer gesellschaftsextern seienden und einzigartig (an)geordneten Natur nicht in Frage gestellt. Und obwohl sie zunächst auf die soziale Konstruiertheit des Natur-Kultur-Dualismus aufmerksam machen, so ist es gemäß der Akteurs-Netzwerk-Ansätze doch die Anerkennung des Wesens und damit der Rechte der (natürlichen) Dinge, die zu einem nachhaltigen harmonischen Zusammenwohnen führt (LATOUR 1993).
So viel in aller Kürze. Was aber ist nun, hat man gewisse Parallelen der „neuen“ Ansätze im englischsprachigen Diskurs zur „alten“ Landschaftsgeographie deutscher Provenienz erkannt, das Problem? Während LATOUR primär ein wissenschaftstheoretisches und -historisches Anliegen hat, sind die abgeleiteten geographischen „Theorien“, um die es hier geht, eigentlich keine. Und sie wollen auch nicht als solche verstanden werden. Sie fordern vielmehr für sich ein, die Dinge, wie sie sind, adäquater, weil eben nicht rational-wissenschaftlich, „nicht-repräsentional“ und damit nicht anthropozentrisch erfassen zu wollen und zu können.
Eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Auseinandersetzung, die gerade vor dem Hintergrund des Übergangs zu einer künstlerischen Annäherung angezeigt wäre, bleibt jedoch aus. Das ist schade, denn gerade der Dialog mit phänomenologischen Theorien und Methoden wäre sicher Gewinn bringend. Problematisch ist daran aber, und dies lehrt uns EISEL nachdrücklich, dass so – zumindest dem Anschein nach – nur vordergründig eine wissenschaftliche Perspektive verhandelt wird, und es eigentlich, tiefer liegend, um die Verhandlung von Weltanschauung geht. Die aber bleibt über weite Strecken implizit und somit nicht verhandelbar.
Durch EISELs Brille gesehen erschließt sich die weitergehende Frage, ob nicht mit dieser Entwicklung auch die Rückkehr eben jenes christlich-humanistischen Subjekts verbunden ist, dessen Verteidigung EISEL (2009, 288 u. 298) den konservativen Strömungen in der deutschsprachigen Geographie seit der paradigmatischen Wende zur Raumwissenschaft attestiert. Und wenn man so weit mitgeht, wäre vielleicht lohnend noch weiter zu fragen, inwiefern es kein Zufall ist, dass eine solche (Rück-)Entwicklung im politischen Kontext von New Labour und dem damit verbundenen liberalen Menschenbild nunmehr als „neue“ (reaktionäre?) Bewegung auftaucht (vgl. ebd., 296).
Noch konsequenter mit EISEL weitergedacht mag dieser konservative Einschlag aber in wissenschaftspolitischer Hinsicht auch unumgänglich erscheinen, insofern er mit der „Artikulation des humanistischen Menschenideals“ die Rettung einer Geographie bedeutet, die sich ihren originären Gegenstand, die Landschaft, erhält und eben nicht in Soziologie, Psychologie, Ethnologie usf. aufgeht (ebd., 299).
2.3 Schluss
Die aufgeworfenen Fragen verstehen sich als bescheidener Beitrag und als Anregung, die Arbeiten von Ulrich EISEL als Denkwerkzeug zu begreifen und zu ge-brauchen. Diese Arbeiten lehren, dass (vermeintliche) Paradigmen und ihre Wechsel immer ideengeschichtlich eingebettet sind. Sie sind ein Plädoyer für die Beobachtung wissenschaftlicher Kommunikation und für eine „Erhöhung des meta-theoretischen Überblicks“ (EISEL 2009, 305). Was aus einer solchen Betrachtung folgt, darum geht es EISEL indes nicht wirklich. Er bleibt Beobachter zweiter Ordnung und lehrt seine Leser_innen eher die Ausweglosigkeit geographischer Progression, zumindest solange die Geographie „bei sich“ bleibt. Seine Kritik ist konsequenterweise an keiner Stelle Programmatik, wodurch sie einerseits als überflüssig, anderseits als blockierend missverstanden werden könnte. Und dies könnten wiederum Gründe sein, warum die Rezeption seines inspirierenden Werkes, wie von BELINA als Anlass für diesen Band genommen, (noch) zu wünschen übrig lässt.
Antje SCHLOTTMANN
3 Paradigmengeschichte vs. Gesellschaftstheorie9
EISELs Buch kreist um zwei geographische Paradigmen, deren Kern die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Gesellschaft und Natur bildet. Das erste, in der deutschsprachigen Geographie bis in die 1960er Jahre hinein vorherrschende Paradigma ist das idiographische. Ihm zufolge ist Geographie vor allem Landschafts- und Länderkunde, ihre Methode ist die genaue Beschreibung konkreter Orte, verstanden als Einheit von Natur und „organischen“ gesellschaftlichen Beziehungen. Die Wurzeln dieses Paradigmas liegen im christlichen Welt- und Menschenbild, vor allem in der Idee, dass sich Individualität „aus freiwilliger Bindung an höhere Maßstäbe und ursprüngliche Naturgegebenheiten“ bzw. aus der selbstverantwortlichen Befolgung der Gesetze Gottes ergibt (EISEL 2009, 24; siehe auch 293f.). Der idiographischen Geographie geht es folglich darum, die Bedingungen einer „Balance von Freiheit und Anpassung“ (ebd., 35) zu identifizieren, die eine vernünftige Einrichtung von Gesellschaft ermögliche. Demgegenüber zielt die sich seit den 1960er Jahren durchsetzende „neue Geographie“ auf die Entdeckung allgemeiner räumlicher Gesetzmäßigkeiten. Ihr Paradigma ist mithin ein nomothetisches. Es hat seine gesellschaftliche Basis im System der maschinellen Fabrikarbeit und des Äquivalententausches, in dem die konkrete Natur verschwindet. Ihre Perspektive ist der „physikalische Standpunkt gegenüber der Gesellschaft“ (ebd., 92).
Mit diesem Paradigmenwechsel vollzieht die Geographie die Durchsetzung und universelle Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise epistemologisch und mit reichlicher Verspätung nach. Sie überwindet die immanente Beschränkung der Landschaftskunde, allenfalls „organizistische Anpassungstheorien“ formulieren zu können, „die im Lichte des Theoriestands der Nachbarwissenschaften oft lächerlich klangen“ (ebd., 90). Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur wird nun auf neue Weise thematisiert: Es geht nicht länger um die Anpassung der Gesellschaft an die Restriktionen einer äußeren Natur, sondern um die rationale Gestaltung letzterer. Dass diese möglich ist, ergibt sich aus der Vorstellung einer „entscheidende[n] Strukturgleichheit zwischen Natur und Gesellschaft“ (ebd., 93), die ihrerseits auf der Annahme der neuen Geographie gründet, Natur und Gesellschaft gleichermaßen in abstrakten, „sozialphysikalischen“ Modellen abbilden zu können.
Genau hierin liegt aber EISEL zufolge das Problem: Die konkrete Gesellschaft wird abstrakt als „Systembestandteil der Natur im Sinne von physikalischer Natur“ (ebd., 178) begriffen, statt, MARX folgend, die Gesellschaft konkret auf den Begriff zu bringen und gleichzeitig Natur als gesellschaftliche zu begreifen. So wird zwar der im klassischen Paradigma vorherrschende „Standpunkt des letzten Primats irgendeiner konkreten Natur“ (ebd., 151) überwunden. Jedoch geschieht dies mit einem gesellschaftstheoretisch ebenso gehaltlosen, weil die soziale Praxis ausklammernden Begriff von „abstrakter Natur“, der umstandslos auf Gesellschaft übertragen wird. In der geographischen Praxis äußert sich das dann etwa in den technokratischen Stadt- und Regionalentwicklungsprogrammen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre.
In der verhaltenswissenschaftlichen Fortführung dieses Paradigmenwechsels rückt gegenüber der Anpassung erheischenden Natur bzw. der physikalisch zu begreifenden Gesellschaft der auf die Natur einwirkende „Mensch“ in den Vordergrund, ohne dass seine Einwirkungen als gesellschaftlich – d.h. vor allem: als über die gesellschaftliche Arbeitsteilung vermittelte – begriffen würden. Zudem führt die Durchsetzung dieses so genannten behavioral approach die Humangeographie in ein Dilemma: Zwar befreit sie sich durch die Hinwendung zu den behavioristischen Gesellschaftswissenschaften von der überholten Epistemologie der Landschaftskunde. Allerdings geht dies einher mit einer „allgemeine(n) Lockerung des ‚räumli-chen‘ Paradigmas“ (ebd., 172). Dies aber impliziert den „tendenziellen Verlust der Fachabgrenzung gegenüber anderen Disziplinen“ bzw. der „einzige[n] Fachlegitimation, die sie besitzt, nämlich eine ‚räumliche‘ Wissenschaft zu sein“ (ebd., 173). Allerdings war der Paradigmenwechsel nie vollständig. Denn, kaum dass die Geographie „sich aus edlen Gründen wissenschaftstheoretisch selbst abzuschaffen versucht“ (ebd., 284), gewinnt im Windschatten des entstehenden ökologischen Krisenbewusstseins die konservative Zivilisationskritik und mit ihr die alte Geogra-phie wieder an Bedeutung. Der Landschaftsbegriff kehrt, mit neuen Etiketten wie „regionale Identität“ versehen, in die Debatte zurück.
Die Auseinandersetzung mit diesen Kontinuitäten und Brüchen zieht sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel des Buches und ermöglicht eine Reihe von interessanten und ideologiekritischen Einsichten in die Paradigmengeschichte der deutschsprachigen Geographie. Voraussetzung ist allerdings, dass man bereit ist, sich auf EISELs schwer verständliche Sprache und seine voraussetzungsreichen Ausführungen einzulassen. Hierin liegt ein großes Manko des Buches: EISEL setzt sich kritisch mit Debattensträngen auseinander, deren Kenntnis zumindest bei einer nicht-geographischen und/oder wissenschaftstheoretisch weniger versierten Le-ser_innenschaft nicht vorausgesetzt werden kann, jedoch nötig wäre, um seinen Gedankengängen folgen zu können. Er tut dies zudem in einer Sprache, die eine mehrfache Lektüre mancher Passagen nötig macht, um auch nur ansatzweise zu erahnen, was der Autor gemeint haben könnte. Wer dazu nicht bereit ist, sich aber dennoch für eine Analyse geographischer Paradigmen interessiert, dem empfehle ich eine selektive Lektüre. Man muss sich nicht unbedingt durch den langen Abschnitt aus EISELs Dissertation von 1980 durchkämpfen (EISEL 2009, 41–145), um den Paradigmenwechsel zu verstehen. Der für das vorliegende Buch verfasste Abschnitt „Die Hintergründe des Raumes“ (ebd., 15–40) oder die Kapitel „Regionalismus und Industrie“ (ebd., 172–191) sowie „Konkreter Mensch im konkreten Raum“ (ebd., 280–308) etwa enthalten die Quintessenz des Buches in einer kondensierten und leichter verständlichen Form.
Eine Frage, die sich im Anschluss an EISELs Kritik der vorherrschenden Paradigmen stellt, ist die nach dem Alternativprogramm des Autors. Anders ausgedrückt: Wie ließe sich das Verhältnis von Gesellschaft und Natur anders konzeptualisieren als im idiographischen Paradigma (selbstverantwortliche Anpassung an die Natur) und in der neuen Geographie (Naturbeherrschung)? Hierzu finden sich leider nur spärliche explizite Äußerungen. Wenn ich sie richtig verstehe, laufen sie auf eine Verbindung und kritische Wendung der emanzipatorischen Gehalte beider Paradigmen im Rahmen eines reformulierten marxistischen Ansatzes hinaus. Es geht darum, den Regionalismus der klassischen Geographie aus seinem kulturkritischen Kontext zu lösen und ihn als „Autonomie“ neu zu definieren. Letztere richtet sich gegen die zerstörerischen Folgen kapitalistischen Wachstums und technokratischer zentralstaatlicher Politik, ohne – und hierin liegt der entscheidende Unterschied zum klassischen idiographischen Paradigma – hinter die industriegesellschaftlichen Errungenschaften zurückzufallen. In EISELs Worten handelt es sich um „die bislang fundamental widersprüchliche Idee idiographischer industrieller Kulturen“ (ebd., 182).
Diese Überlegungen sind unter dem Eindruck der neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre entwickelt worden, in denen der Autor ein entsprechendes, wenn auch noch von kulturkritischen Elementen durchsetztes und deshalb erst „erscheinendes“ progressives Bewusstsein erkennt (ebd., 183). Wichtig sind hier vor allem die Ökologie-und die Frauenbewegung, auf die EISEL sich explizit bezieht. An ihre Kritik der Industriegesellschaft und patriarchaler Herrschaft anknüpfend plädiert er für eine Erneuerung der MARX’schen Kritik der Politischen Ökonomie. Unter anderem gehe es um „eine Neuformulierung der gesamten Mehrwerttheorie aus der Sicht der reproduktiven Ökonomien“, die Kapital und Lohnarbeit gegenüberstehen (ebd., 220) – ein Gedanke, der an James O’CONNORS kurze Zeit später entwickeltes Konzept der second contradiction, des Widerspruchs zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften einerseits und den in der Regel nicht kapitalistisch hergestellten Produktionsbedingungen (Arbeitskraft, Natur, Infrastruktur) andererseits, erinnert (O’CONNOR 1988). Im Unterschied zu O’CONNOR führt EISEL diese Überlegungen aber nicht weiter aus. Er befasst sich auch nicht wie jener mit möglichen Synergien zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen, sondern belässt es beim Verweis auf den Klassencharakter von Natur (EISEL 2009, 220).
EISEL arbeitet sich somit durchgängig an ein und demselben begrenzten Gegenstand ab, den Paradigmen der deutschsprachigen Geographie, die er wissenschaftstheoretisch und philosophisch tief schürfend analysiert. Hierin liegt die Stärke des Buches, die gleichzeitig seine Schwäche ist. Denn wer sich über die geographische Wissenschaftsgeschichte hinaus für ein kritisches Konzept des Verhältnisses von Gesellschaft und Natur interessiert, muss sich mit Andeutungen begnügen. Und wer erwartet hat, dass ein marxistischer Autor, der sich kritisch mit der deutschsprachigen Geographie auseinandersetzt, dies auch im Dialog mit der angloamerikanischen radical geography tut, wird gänzlich enttäuscht. Die mit Neil SMITH (1984) beginnende production of nature-Debatte bleibt unerwähnt. Dasselbe gilt für die Arbeiten zu Gesellschaft und Natur, wie sie im Kontext der Kritischen Theorie entstanden sind (SCHMIDT 1971; der von der Kritischen Theorie inspirierte Ansatz der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wurde allerdings erst seit den späten 1980er Jahren entwickelt, siehe JAHN 1991; JAHN u. WEHLING 1998; GÖRG 2003). Die Rezeption dieser Ansätze hätte vermutlich dazu beigetragen, den gesellschafts-theoretischen und zeitdiagnostischen Gehalt des Buches zu steigern, der so im Schatten der Rekonstruktion der deutschsprachigen geographischen Paradigmen verbleibt.
Markus WISSEN
4 Ist alle Geographie konservativ?
Mit MARX Geographie zu betreiben bzw. Geographie zu kritisieren war in der BRD der 1970er und 1980er Jahre alles andere als weit verbreitet, zumal innerhalb des anerkannten geographischen Schrifttums. Neben den Arbeiten Ulrich EISELs können jene von Günther BECK, Hans-Dieter VON FRIELING und Alois KNEISLE genannt werden. Für sie gilt ebenso wie für die explizit marxistischen, studentischen Zeitschriften Geographie in Ausbildung und Planung und Roter Globus, dass sie kaum einen Einfluss auf die Geographie hatten (vgl. BELINA et al. 2009; WERLEN 2009). Ganz anders stellt sich die Situation in der anglophonen Geographie dar, insbesondere in den USA, wo an Marx und marxistischer Theorie orientierte Arbeiten in derselben Zeit hegemonial waren (SMITH 2001), und wo sie bis heute große Relevanz haben. Diese radical geography spielte auch in den marxistischen Debatten in der bundesdeutschen Geographie der 1970er und 1980er Jahre kaum eine Rolle. Dies gilt, wie Markus WISSEN weiter oben festgestellt hat, auch für die Arbeiten Ulrich EISELs. Im Folgenden will ich die radical geography mit der Position Ulrich EISELs kontrastieren, um einen Schluss bzgl. der aktuellen Geltung von EISELs Bestimmung der Geographie ziehen.
MARX unterscheidet zu Beginn des Kapitals die beiden Seiten der Ware, Gebrauchswert und Wert (dessen Erscheinungsform der Tauschwert ist). Während die „Nützlichkeit eines Dings … es zum Gebrauchswert [macht]“ (MARX 1971, 50) ist der Wert der Ware bestimmt durch die zu ihrer Produktion im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit. Während also der Gebrauchswert auf den konkreten Eigenschaften der physisch-materiellen Dinglichkeit der Ware basiert, sind ihr Tauschwert und Wert als gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich immaterieller Natur; in ihnen wird die Ware durch Realabstraktion auf reine Quantität reduziert: „Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein“ (ebd., 52). Im Kapitalismus gilt, dass Gebrauchswerte „überhaupt nur produziert [werden], weil und sofern sie materielles Substrat, Träger des Tauschwerts sind“ (ebd., 201). Während die genaue Untersuchung der Art und Weise der gesellschaftlichen Produktion von Wert im Kapitalismus im Zentrum des Kapitals steht, ordnet Marx die wissenschaftliche Befassung mit dem Gebrauchswert der „Warenkunde“ (ebd., 49) zu.
Neil SMITH argumentiert in Uneven Development (1984), dass es falsch wäre hieraus den Schluss zu ziehen, dass sich Marx im Kapital nicht für die Gebrauchswertseite interessiere. Vielmehr kehre Marx „regelmäßig zum Bereich des Gebrauchwertes zurück, um die dialektische Analyse des Kapitals zu entwickeln“ (SMITH 2007, 66). An diesen Stellen, so SMITH, „bezieht sich Marx … auf den Raum“ (ebd., 67), etwa bei der Diskussion der Wertproduktion durch Ortsveränderung im Transportwesen. Wie KRUMBEIN (2008, 49) betont, zeigt dieses Beispiel vor allem die Notwendigkeit des „Bezug[s] auf Gebrauchswert und Tauschwert“; und ebenso lese ich (anders als Krumbein) auch Smiths Ausführung.
Auch EISEL bezieht sich in seiner Kritik der Geographie auf die MARX’sche Unterscheidung von Gebrauchswert und Wert, wenn er schreibt: „Die Begriffe [Land und Landschaft] gewährleisten, daß der ‚Stoffwechsel‘ zwischen Mensch und Natur nicht von der Wertform her, die die Arbeit als industrielle hat, betrachtet wird, sondern so, als bestünde die Umformung der Natur nur aus Gebrauchsproduktion.“ (EISEL 2009, 202) Dies kritisiert er: „Alles, was aus der Unterwerfung unter das Wertgesetz … folgt, ist irrelevant für diesen Blick“ (ebd., 203), denn „[d]ie Betrachtung dieser Ebene der Vergesellschaftung abstrahiert … von der Abstraktion durch die Tauschwertform“ (ebd.). Sie verbleibt auf der Gebrauchswertebene, nimmt die im Kapitalismus geltenden Abstraktionen nicht zur Kenntnis und zielt auf „gelungene Anpassung“ (ebd., 287) konkreter Menschen an konkrete Natur. Damit basiert sie in EISELS Systematisierung politischer Philosophien auf jener des Konservatismus: „Die Bewährungsidee erlaubt also, das Primat eines individuell unverrückbar festliegenden Wesens bei Menschen und Völkern mit der Relevanz von gesellschaftlicher und natürlicher Anpassung für eine Entwicklung zu kombinieren. Das ist der Stein der Weisen der Konservativen.“ (ebd., 288)
Diese Analyse der traditionellen Geographie und der ihr zugrundeliegenden Denkweise überzeugt mich. Was mich jedoch nicht überzeugt, ist EISELS hierauf aufbauende Kritik der aktuellen Geographie im Sinne von BARTELS’ „1geographisch“, worunter dieser versteht, „was Angehörige dieser Hochschuldisziplin an Forschungstätigkeit entfalten bzw. entfaltet haben“ (BARTELS 1968, 6f.). Insgesamt scheinen für EISEL ohnehin alle theoretischen Entwicklungen, die in der Geographie nach spatial und behavioral approach kamen, uninteressant, da sie nur ewige und notwendige Widerauflage der Vorherigen sind – oder keine Geographie mehr: „Heute ist der geographische Weltbegriff ein diffuser Brei … [weil] so ziemlich alles, was an neueren Philosophien existierte bzw. an kaffeehausphilosophischen Moden aufkam, umgehend adoptiert wurde: Marxismus, Strukturalismus, Postmoderne, Leibphänomenologie, Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus, systemischer Konstruktivismus, Kulturalismus … Je nach dem, was für eine politische Philosophie damit transportiert werden soll, wird der Raumbegriff verschieden gefasst bzw. ganz ignoriert. Aber dieser Brei enthält eine zähe Strömung: Die kreist um die räumliche Artikulation des humanistischen Menschenideals, demgemäß sich Freiheit nur in konkreten Fällen als Angemessenheit des Handelns bezogen auf die Umstände definieren lässt, nicht prinzipiell als Unabhängigkeit von Umständen überhaupt. Alle ‚modernen‘ kulturgeographischen Konzepte, die das ablehnen, lösen sich regelmäßig in Regionalökonomie, Soziologie, Sozialökologie, Ethnologie, Psychologie usw. auf. Das ist für das Fach inakzeptabel.“ (EISEL 2009, 299)
Jede Variante, in der versucht wird als Geograph_in mit Marxismus zu arbeiten, als Teil einer grundlegend konservativen „Strömung“ abzutun, halte ich für nicht treffend. Die Literatur, die sich, wie angeführt, mit der sozialen Produktion des Raums im widersprüchlichen Verhältnis von Gebrauchswert und Wert befasst, die also konkrete materielle Räume und ihre Bedeutungen im Kontext der und im Hinblick auf die Durchsetzung des Wertgesetzes untersucht, hat mit „humanistischem Menschenideal“ und darauf basierender gelungener Anpassung als „Welt-sicht und Wunschtraum“ (ebd., 287) m.E. nichts zu tun. Autoren wie Smith oder Harvey nehmen Marx – anders als manche „humanistische Marxist_innen“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – sehr ernst, der in den Feuerbachthesen festgehalten hat, dass das menschliche Wesen "in seiner Wirklichkeit … das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse [ist]" (MARX 1969, 6). Humanismus ist mit Marx nicht zu machen (vgl. RAITH 1985).
EISEL schreibt selbst: „Der Raum könnte … durchaus auch ohne Bezug auf die Eigenart einer realen Ganzheit thematisiert werden, so z.B. in der ökonomischen Standortlehre, etwa als Transportkosten. Dann ist das Räumliche eine allgemeine funktionelle Beziehung zwischen ökonomischen Variablen, und die Ganzheit gerät aus dem Blickfeld. Nichts ist dort sichtbar eigenartig.“ (EISEL 2009, 285) Warum also sollten sich Geograph_innen nicht etwa mit der räumlichen Praxis „Transport“ im o.g. Sinne beschäftigen, also als Fall, in dem konkreter Raum im und für das Wertgesetz relevant wird. David HARVEY hat dies, beginnend mit The Limits to Capital (1982), geleistet und gezeigt, dass die Minimierung von Zirkulationszeit durch die Beschleunigung des Transports ein Ziel kapitalistischer Raumproduktion ist, wozu Wert in Transportinfrastruktur räumlich fixiert werden muss. Die Bestimmung dieser der kapitalistischen Raumproduktion inhärenten „Spannung zwischen Stillstand und Bewegung“ (HARVEY 2010, 190) ist bestimmt nicht konservativ. Doch für EISEL wäre sie vermutlich keine Geographie. An der Stelle, der das letzte Zitat entnommen ist und in der eine Untersuchung von Transportkosten ohne „Eigenart“ beschrieben wird, fährt er fort: „Die Geographie verlangt aber genau dies [also Eigenart]. Denn ihr Objekt ist die Landschaft.“ (EISEL 2009, 285) Hieraus spricht ein zwar aus dem Material (der traditionellen Geographie) induktiv gewonnenes Verständnis von „Geographie“, das in der Folge aber deduktiv gesetzt wird und davon abstrahiert, was – zumindest einige – Geograph_innen tatsächlich tun. Kompatibel mit Eisels, Harveys oder auch meiner theoretischen Orientierung wäre es, BARTELS’ technische Definition von „1geographisch“ als Bestimmung mit Bezug auf soziale Praxis so umzuformulieren, dass die Relevanz konkreter Raum-produktionen im Kapitalismus eben auch Geographie ist. Das wäre zwar im EISEL’schen Sinne keine „Geographie“ mehr, dafür aber der Versuch der Erklärung von Phänomenen der bestehenden Gesellschaftsformation durch Geograph_innen – und unter gesellschaftheoretisch begründeter Einbeziehung der Produktion des konkreten Raums, die nicht notwendig konservativ ist.
Wenn also EISEL im Anschluss an ein Gradmann-Zitat, in dem die Denkweise der traditionellen Geographie zusammengefasst ist, schreibt: „So denken Geogra-phen.“ (EISEL 2009, 283), dann ist das nicht nur mit Heiner Dürr und im Bezug auf die Geschichte der Geographie als „pauschalisierend“ (DÜRR 2005, 91) zu kritisieren – etwa angesichts der von Gradmann betreuten Dissertation Walter Christallers –, sondern auch und vor allem im Bezug auf eine an Marx orientierte Geographie, die konkrete produzierte Räume in ihrer Relevanz in der und für eine Gesellschaft untersucht, die auf praktisch wahr gemachten Abstraktionen wie Wert, Geld und Kredit basiert.
Bernd BELINA
Fazit
Mit diesem Beitrag wollen wir nicht nur gegen die Geschichtsvergessenheit der deutschsprachigen Geographie anschreiben und den vorliegenden Band würdigen, sondern vor allem zur aktiven Aneignung der darin enthaltenen Gedanken und Argumente ermuntern. Wir hoffen exemplarisch aufgezeigt zu haben, in welche Richtungen und warum dies sinnvoll und interessant erscheint. Wie kein anderer deutschsprachiger Autor hat EISEL die Geographie theoretisch durchdrungen und kritisiert, indem er sie im Feld der Politischen Philosophien situiert hat. Seine dabei erarbeitete Systematisierung des modernen Denkens kann dabei helfen, die bestimmten Aussagen und Theorien zugrundeliegenden Annahmen zu identifizieren, insbesondere wenn es um die immer neuen Neuerfindungen der traditionellen (konservativen) Geographie geht. Dies anhand der Beispiele von Naturschutz, Biologie und anglophoner Geographie zu demonstrieren war ein Ziel dieses Beitrags; ein weiteres war es, EISELs Lesart von und Arbeit mit marxistischer Literatur zu Natur und Raum unter die Lupe zu nehmen. Wir hoffen damit Denkanstöße geliefert zu haben, welcher Art die Aneignung und Weiterarbeit mit und an EISELS Schriften heute sein kann.
Anmerkungen
1 Es mag etwas ungewöhnlich erscheinen, dass zwei der Herausgeber einer Buchreihe sich im Stil einer Rezension zu einem in dieser Reihe erschienenen Band äußern. Dies erscheint uns legitim, weil unsere Motivation zur Aufnahme des Bandes in die Reihe ebenso wie zur Beteiligung an diesem Text darin besteht, zur unseres Erachtens sinnvollen und wichtigen Debatte der Beiträge EISELS einzuladen – und wenn wir das wollen, stehen wir nachgerade in der Pflicht, uns an dieser Debatte auch aktiv zu be-teiligen. Unser Dank gilt den Berichten zur deutschen Landeskunde und namentlich Ute WARDENGA, die diese in der deutschsprachigen Geographie wenig gepflegte Form des Besprechungssymposiums ermöglicht hat.
2 So der Titel eines Artikels von Ulrich EISEL (2004b, vgl. auch 2009, 280ff.).
3 Hierzu gehören Kenntnisse über die Geschichtsphilosophie Johann Gottfried HERDERs, die Monadolo-gie von LEIBNIZ, Grundfragen und Problemstellungen des Christentums, ein zumindest oberflächlicher Überblick über die philosophischen Hauptströmungen der Moderne sowie die zentralen Fragen der Erkenntnistheorie.
4 „Die Geographie ist im Kolonialismus unter dem Eindruck der Entdeckung des Reichtums [der] Mensch-Natur-Beziehungen entstanden und war methodologisch prädestiniert, sich an den Besonderhei-ten der Welt zu erfreuen. Sie ist damit ideologisch von Anbeginn an in die konservative Zivilisations-kritik eingebunden gewesen … und hat diese auf der raumwissenschaftlichen Ebene ausformuliert. Sie hat sich, wie der Konservatismus allgemein, zwar zur industriellen Arbeitsteilung und zum technischen Fortschritt bekannt, aber nur unter der Bedingung, dass diese als Mittel zum Zweck, so etwa wie ein perfektioniertes Handwerk, nicht aber als Motor der Entwicklung und Selbstzweck, angesehen werden. Sie sollen grundsätzlich der Entwicklung individueller Vielfalt zuträglich gemacht werden. Das nennen wir heute Nachhaltigkeit, und das sogenannte ökologische Bewusstsein ist erfüllt von dieser alten Sehnsucht.“ (EISEL 2004b, 204f.)
5 Nie hätte ich gedacht, dass ich mich, die ich längst aus Überzeugung aus der Kirche ausgetreten war, mit dem Christentum auseinandersetzen muss, wenn ich das „Wesen“ der Geographie verstehen will. Ich tat es und begriff, dass auch mein Denken, ob ich will oder nicht, von christlichen Vorstellungen geprägt ist.
6 Die Slow Food-Ideologie, die durch die Idee der Vielfalt und Eigenart strukturiert ist, kann als einelebensphilosophische Kulturtheorie des Essens betrachtet werden (vgl. GELINSKY 2008).
7 So der Titel eines Artikels von Ulrich EISEL (2004c).
8 Eisels Gliederung politischer Theorien der Moderne in jeweils zugehörige philosophische Grundpositionen bzw. politische Ideologien mag schematisch und stark vereinfachend erscheinen. Als ein analytisches Mittel lässt sich diese Zuspitzung jedoch rechtfertigen.
9 Das Folgende ist aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive geschrieben, die allerdings den kritisch-geographischen Arbeiten über Raum und Natur viele Anregungen verdankt. Mit dem Werk von Ulrich EISEL habe ich erst über das Buch, um das es in diesem Besprechungssymposium hauptsächlich geht, Bekanntschaft geschlossen.
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Quelle: Berichte zur deutschen Landeskunde, Bd. 85, H.1, 2011, S. 105-122
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