Werner Plumpe, unter Mitarbeit von Eva J. Dubisch: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. München 2010. 128 S.
Fast mit Beginn der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise erschienen auch neue Bücher über die Krise. Spätestens seit der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008 wurden in Wissenschaft und Publizistik Vergleiche zur Weltwirtschaftskrise 1929 gezogen. Verf. kann sich auf eine beträchtliche Zahl von wirtschaftshistorischen Veröffentlichungen über die vergangenen Krisen stützen. Neues im Detail will und kann er in dem schmalen Band kaum anbieten. Was der Publikation ihren besonderen Charakter gibt und zum Nachdenken anregt, sind die Einordnungen der Krisen in die langfristige gesamtwirtschaftliche Entwicklung und - damit im Zusammenhang - seine Vorschläge zu einer Periodisierung.
Er unterscheidet zwei Gruppen von Wirtschaftskrisen: die der vorindustriellen Zeit und die der Moderne. Erstere wurden durch extreme Witterung hervorgerufen, die zu Missernten führten, die wiederum die Preise nach oben trieben und so Hunger, Elend, Arbeitslosigkeit und Not zur Folge hatten. Die Krisen der Moderne sind dagegen das retardierende Moment eines Entwicklungsprozesses, in dem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wie auch das Wohlstandsniveau mittel- und langfristig ständig zugenommen haben. Die vormodernen Krisen stellten ein erreichtes Niveau in Frage, es musste später wieder hergestellt werden. Die modernen Krisen dagegen sind notwendiger und nützlicher Bestandteil der Entwicklung. Aufschwünge und nachfolgende Krisen haben eine wichtige Funktion im wirtschaftlichen Strukturwandel, "indem sie positive Zukunftserwartungen fördern und Übertreibungen korrigieren" (120). Die Spekulation wird als ein viele Wirtschaftskrisen begleitendes Moment ausdrücklich in die Beschreibung der Nützlichkeit der Krisen eingeschlossen. In dieser Perspektive macht Verf. auch eine kurze Bemerkung zu den sozialistischen Ländern. Deren Wirtschaft habe zwar keine zyklischen Krisen gekannt, aber auch den notwendigen Strukturwandel versäumt.
Ausgehend von seiner gewonnenen Überzeugung nimmt Verf. auch zum gegenwärtigen Umgang mit der Wirtschaftskrise kritisch Stellung. "Die öffentliche Meinung und die Politik orientierten sich in der Regel an einer utopischen Gleichgewichtsvorstellung, nach der jede Schwankung und jede Krise die Folge einer falschen, also korrigierbaren bzw. unterlassenen, also nachholbaren Handlung ist." (120) Er empfiehlt, an die Krisen gelassener heranzugehen, zumal zumindest die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften so wohlhabend seien, dass Krisen sich nicht - wie in der Vormoderne - zu existenziellen Bedrohungen auswachsen müssten.
Als Wirtschaftshistoriker hat Verf. besonderes Interesse an Übergangs- und Ausnahmezeiten. Den Krisen während der drei Jahrzehnte zwischen 1820 und 1850 widmet er besondere Aufmerksamkeit. Damals "verbanden sich Momente der Krisen des alten und neuen Typs zu einem z. T. unentwirrbaren Knäuel" (53). Die Zwischenkriegszeit (1918-1939) markiert eine Ausnahmesituation. Der Erste Weltkrieg habe politisch und wirtschaftlich soviel durcheinander gebracht, das ein normaler Krisenablauf wie zwischen 1849 und 1914 nicht mehr gewährleistet war. Die besondere Schwere der Weltwirtschaftskrise sei das Ergebnis einer "Verkettung unglücklicher Umstände" gewesen und in der Komplexheit ihrer Ursachen einmalig - ebenso einmalig wie die lange Boomperiode zwischen 1945 und 1975. Sie sei das Ergebnis der Beseitigung der durch Krieg verursachten Schäden und entstandenen Disproportionen zwischen den Wirtschaften in den USA und in Westeuropa bzw. Japan gewesen. Als der durch den Krieg verursachte Nachholbedarf gestillt und das normale wirtschaftliche Kräfteverhältnis wieder hergestellt war, habe der "normale" Zyklus von Konjunktur und Krise mit der weltweiten Wirtschaftskrise 1974/75 wieder eingesetzt.
Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise taktet Verf. in diese wiedergewonnene Normalität ein. Er kritisiert diejenigen Analytiker, die die konjunkturelle Ausnahmesituation zwischen 1945 und 1975 für die Regel halten und jede Krise für ein Unglück betrachten. Er schilt auch jene, die unbedingt Gemeinsamkeiten zwischen der heutigen und der Krise von 1929 sehen. Bezüglich gängiger Krisentheorien tadelt er, "dass für zahlreiche Ökonomen monetaristischer und keynesianistischer Herkunft Krisen vermeidbare Phänomene sind" (26). Er selbst hält es in dieser Frage mehr mit Marx und Schumpeter, die die Auffassung vertreten, dass Krisen im Kapitalismus notwendige Funktionen haben. Jedoch distanziert er sich vom marxschen "Verelendungswahn". Das die Mehrzahl der Leser wohl unbefriedigt lassende Fazit aus der historischen Krisenanalyse kann vielleicht - salopp gesprochen - so zusammengefasst werden: Mit der jetzigen Krise habe es schon seine Richtigkeit. Ihr Ende sei abzusehen. Auch die nächste Wirtschaftskrise komme bestimmt.
Und das sei auch gut so.
Jörg Roesler (Berlin)
Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 472-473
weitere Besprechungen zum Thema:
Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2010.
Norman Backhaus: Globalisierung. Braunschweig (Das Geographische Seminar) 2009.
Joseph Vogel: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010.
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